„4000 Tage“ oder Mut zur Lebens-Lücke

Einmal kreativ, immer kreativ. Michael, gespielt von Matthias Happach (Mitte), ist zwar jetzt Versicherungsvertreter, aber auch das hat er nach seinem Unfall vergessen. Dass in ihm ein Künstler steckt, offenbar nicht. Seine Mutter, dargestellt von Mona Seefried (l.) und sein Freund, verkörpert von Mathias Herrmann (r.), sind erstaunt. Foto. jbr

Steinbach (jbr). Elf Jahre des eigenen Lebens: Fort! Ausgelöscht! Dem Vergessen anheimgefallen! Das Steinbacher Theater brachte die Zuschauer mit dem zweiten Stück der Saison „4000 Tage“ von Peter Quilter ins Grübeln. Die drei Schauspieler Matthias Happach, Mona Seefried und Mathias Herrmann lieferten mit der ernsten Komödie tiefe Einblicke in das Gefühlsleben ihrer Charaktere und ließen ihr Publikum mitleiden, lachen und regten zum Nachdenken an, denn bei dem Stück handelte es sich keineswegs um leichte Kost.

Michael (Matthias Happach) erwachte aus dem Koma. Rund um die Uhr hatten seine Mutter Carola (Mona Seefried) und sein Lebensgefährte Paul (Mathias Herrmann) an seinem Bett im Krankenhaus gewacht. Eigentlich hätte den beiden jetzt ein Stein vom Herzen fallen sollen. Doch Michael erinnert sich nicht mehr an die vergangenen elf Jahre seines Lebens. Dies Tatsache nahmen Carola und Paul erst ungläubig, dann schockiert zur Kenntnis. „Wie viele Finger zeige ich? Wer ist Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika?“, wollte die besorgte Mutter von ihrem Sohn wissen, nachdem sie betont hatte, sie sei immer da gewesen, während er im Koma lag, was Michael wiederum eher weniger zu interessieren schien. Genau wie die Geschehnisse, die ihn überhaupt erst ins Krankenhaus gebracht hatten. „Lass Stecken!“, brachte jener hervor. „Acht Finger und der Präsident der USA ist George W. …fucking… Bush!“ Carola war entsetzt. Für ihren geliebten Sohn war es das Jahr 2009.

Während Paul krampfhaft versuchte, mit Bildern und alten Zeitungen die Erinnerungen seines Partners an ihre gemeinsame Zeit, ihre Reisen und die vielen schönen Momente zurückzuholen, verkaufte Carola ihrem Sohn die aus dessen Gedächtnis gelöschten Jahre als Chance für einen Neuanfang. Sie konnte seinen Lebensgefährten Paul ohnehin nicht leiden: „Von allen Dingen, die du vergessen hast, war Paul zu vergessen nicht das Schlechteste“, gab sie zu bedenken. Er habe nur seinetwegen die Existenz als Künstler aufgeben, sein Atelier verkauft und einen Job bei einer Versicherung angenommen. Auf die Frage, was aus seinem Schaffensraum geworden sei antwortete Carola nur: „Dein Atelier – das war doch eher ein Zimmer in einem Abbruchhaus. Da steht heute ein Media Markt.“ Für diesen Lebenswandel trage Paul die Verantwortung, der „Michi“ nach eigenen Vorstellungen geformt habe, beschuldigte die besorgte Mutter den Lebenspartner ihres Sohnes.

In die Tristesse des kahlen Krankenhauszimmers und die Szenerie zwischen Verzweiflung, welche von Paul, der die Liebe seines Lebens verloren zu haben schien, ausging und jugendlicher Hoffnung, die Michael mit seinem Tatendrang und gewisser Gleichgültigkeit der Situation gegenüber versprühte, platzten stets trockener Sarkasmus und Humor, der in der durchaus auch bitteren Handlung erfrischende Abwechslung bot. Allein durch ihre schauspielerische Leistung ließen die Darsteller die wenigen Längen der Stücks wie im Flug vorbeiziehen. Ihre Rollen spielten die drei nicht nur, sie lebten sie, spiegelten die Gefühlswelt ihrer Charaktere brillant wieder, wobei es besonders Mona Seefried gelang, dem Publikum mit einer einzigen Geste oder einem kurzen Blick Stimmung, Seelenleben oder einen beinahe ausformulierten Gedanken darzulegen.

Den verzweifelten Versuch Pauls, seinen Partner samt seiner Erinnerungen zurückzubekommen, wobei er nach und nach die Hoffnung verlor und schließlich versuchte, emotionale Distanz zu gewinnen, um damit fertigzuwerden, konnten die Zuschauer dank der ausdrucksstarken und überzeugend echten Darbietung Mathias Herrmanns hautnah erleben. Und mitten drin Michael, der mit jugendlicher Frische und Enthusiasmus sein Zimmer zu einem Kunstwerk, aus welchem in der Pause ein großartiges Bühnenbild entstand, umbaute, und die Sorgen der ihm Nahestehenden nicht im Geringsten zu teilen schien.

Auch Matthias Happach lebte seine Rolle förmlich. Mit ihm wehte ein unterhaltsamer, jedoch auch erschreckender Gegenwind zum üblichen Umgang mit solchen Schicksalsschlägen wie dem Seinen durch den Saal. Es hatte weit über die erste Hälfte hinaus den Anschein, als würde Carola ihren Traum, ihren Sohn, so wie er vor seiner Beziehung zu dem spießigen, unaufregenden Anzugträger Paul gewesen war, wiederzubekommen, verwirklichen können. Michael der bereits resigniert seine Sachen packte – kam plötzlich eine kleine Erinnerung in den Sinn, die er mit Michael teilen wollte. Er erzählte seinem mehr oder weniger ehemaligen Lebensgefährten, zu welchem er während seines Aufenthaltes im Hospital ein neues, allerdings eher freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte, davon. Auf einmal schien „Michi“ verändert. „Woran erinnerst du dich noch?“, fragte Paul vorsichtig. „An alles!“, rief sein Gegenüber überrascht und mit enthusiastischer Stimme. Erleichtert und voller Freude über die unerwartete Wendung fielen sich die beiden in die Arme.

„Du hast wieder mir gehört“, bedauerte Carola die Entscheidung ihres Sohnes, zu seiner wiederentdeckten Liebe zurückzukehren. Was würde nun aus ihr? Mit einem letzten, bedeutenden Blick Seefrieds ins Publikum schloss sich der Vorhang und ließ das Publikum zum Nachdenken angeregt zurück. Eine zweite Chance ergreifen oder alles aufholen, was einem an Erinnerungen fehlte? Eine Frage, die „4000 Tage“ unweigerlich aufwarf.



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