Beim Boccia-Spiel erste Freunde finden

Die Spielregeln fürs Boccia vor dem evangelischen Gemeindehaus in Gonzenheim werden auf Deutsch und Ukrainisch von Julia Koch und Natalia Turkovska-Yakobchuk (l. und 3. v .l.) erklärt, und die jugendlichen Teilnehmer des ukrainisch-deutschen Jugendtreffs stellen sich auf: klassische Partie natürlich, die Jungen halten zusammen. Foto: Bergner

Von Astrid Bergner

Bad Homburg
. Das große Tischfußball-Spiel im Gemeindesaal der Evangelischen Kirchengemeinde Bad Homburg-Gonzenheim ist umlagert, fünf Jungen schauen konzentriert dem kleinen Ball nach, klack-klack, Tor, Jubel! Zwei Elfjährige mit Basecaps sehen bewundernd zu. Eine Gruppe älterer Mädchen tauscht sich an einem Tisch laut unter allerhand Gelächter aus. Es wird viel Ukrainisch gesprochen, ein bisschen auch Deutsch und Englisch, und ein Junge, der gerade nicht reden möchte, sitzt am Klavier und spielt ein paar Töne. Andere spielen Uno.

Rita von Seidel, Natalia Turkovska-Yakobchuk und Julia Koch holen noch ein paar Jugendliche in den Saal, die draußen in der Sonne stehen, und fordern alle auf, einen Willkommenskreis zu bilden. Nach dem offiziellen Hallo geht es den drei Organisatorinnen des ukrainisch-deutschen Jugendtreffs erstmal ums elementare sprachliche Verstehen. „Was heißt ‚Danke‘ auf Ukrainisch?“, fragt Rita von Seidel – für den 15-jährigen Yarema aus Kiew, der in der Runde als Übersetzer fungiert, eine zu leichte Übung: „Im Ukrainischen gibt es viele ‚Danke‘ – Dankeschön, aber vielleicht, Dankeschön gerne, Dankeschön, aber ich brauche nichts“, erklärt er.

Yarema ist seit den Osterferien begeistert beim Jugendtreff mittwochs von 16 bis 18 Uhr in den Räumen der Kirchengemeinde dabei; er besuchte bis Anfang März die deutsch-ausländische Schule in Kiew und spricht seit der Kindergartenzeit dort fließend Deutsch. Das erleichtert ihm derzeit das Einleben im gymnasialen Zweig der Gesamtschule am Gluckenstein (GaG). Mit seiner Mutter Natalia Turkovska-Yakobchuk und seiner zwölfjährigen Schwester Sophia floh er am 5. März, als ihr Heimatdorf nahe Kiew von russischen Truppen beschossen wurde und die Familie mehrere Tage im Keller ihres Hauses verbringen musste. Das Datum hat sich bei dem Schüler einer 9. Gymnasialklasse der deutschen Schule Kiew eingebrannt: „Drei Tage vor meinem Geburtstag!“, betont er.

Mutter Natalia, engagierte ehrenamtliche Elternvertreterin der Auslandsschule, die auch ein kleines Café in Kiew betrieb, sagt im Gespräch, sie sei dankbar, in Bad Homburg mit Yarema und Sophia von einer guten Freundin aufgenommen worden zu sein. „Unsere Flucht war keine geplante Entscheidung. Die Kinder wollten weg, und unser einziger Gedanke war: Wo finden wir Sicherheit?“ Ihr Ehemann musste in der Ukraine bleiben und arbeitet derzeit in Lwiw in einem Hilfe-Team für Zivilisten. Aber nun, nachdem kein rasches Ende des Kriegs abzusehen sei, müsse sie sich mit dem Gedanken beschäftigen, vorerst in Bad Homburg zu bleiben, Arbeit zu finden und eine kleine Wohnung, ihre in der Heimat begonnene Weiterbildung zur Schul-Managerin erstmal aufzustecken und weitere Sprachkurse zu machen.

Raum zum Kennenlernen

Trotz der traumatischen Erfahrungen hatte die 45-Jährige nach Ankunft in Deutschland noch die kreative Kraft, über den Bad Homburger Kinderschutzbund und dessen Kontakte zur Gonzenheimer Kirchengemeinde einen Jugendtreff zu initiieren. Die dortigen Kirchenvorsteherinnen Rita von Seidel und Julia Koch, selbst Mütter von Teenagern, stiegen mit ihr spontan in ein Projekt ein, das aus der Ukraine geflüchteten Jugendlichen zwischen elf und 18 Jahren, die derzeit in Bad Homburg leben, „einen Raum öffnet, in dem sich die Jugendlichen, die aus allen Teilen der Ukraine kommen und aus unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten dort, kennenlernen und austauschen können, in dem sie mit deutschen Schülern sprechen und Spaß haben und mit der Kultur hier bei uns vertraut werden können“, beschreibt Rita von Seidel Inhalte des offenen Jugendtreffs.

Bekannt gemacht wurde das Angebot am Kaiserin-Friedrich-Gymnasium (KFG) und an der Humboldtschule (HUS) sowie an der Gesamtschule am Gluckenstein (GaG). Dort werden derzeit insgesamt mehr als 80 ukrainische Schüler beschult, größtenteils in Intensiv-Klassen. Natürlich, so sagen die beiden Organisatorinnen, sei nicht alles gleich umsetzbar, was sie sich für die wöchentlichen zwei Stunden vornehmen würden: Schon die Sprachbarriere setze manchem pädagogisch gedachten Vorhaben Grenzen. Aber ein „harter Kern“ von etwa 20 Teilnehmern habe sich nun schon gebildet, so Julia Koch. Gemeinsame Spiele draußen, Minigolf und Badminton, Aktivitäten in der Küche des Gemeindehauses wie Cookies oder Waffeln backen und auch ein erster gemeinsamer Filmabend hätten schon Freundschaften und Gespräche in Gang gebracht. Auch der russischstämmige Alek von der Pfadfinder-Jungengruppe der evangelischen Kirchengemeinde engagiert sich und hat bereits mehrmals mit den Jugendlichen das beliebte Ringspiel draußen gespielt. Demnächst soll es ein Kunst-Projekt geben. An diesem sonnig-heißen Nachmittag ist Boccia-Spielen angesagt, danach gibt es für jeden einen liebevoll gefüllten Eisbecher mit Erdbeere obendrauf von Natalia Turkovska-Yakobchuk. Im Pfarrgarten neben dem Gemeindehaus auf dem Rasen sitzend, erzählen Daria (14) und Danylo (15), die im März mit ihren Müttern und Geschwistern aus Kiew flohen, was sie bewegt.

Die Schulen hier seien sehr groß, ganz anders als in der Ukraine, aber Freunde hätten sie schon gefunden, „mehr gerade als ich in der Ukraine hatte“, sagt Daria, die schon passabel Deutsch spricht. Danylo spricht lieber Englisch. Ihre Väter sind in Kiew zurückgeblieben, der 24 Jahre alte Bruder von Daria „kämpft oder ist zu Hause, das weiß ich gerade gar nicht“. Dabei spricht Daria wieder ihre Muttersprache, aber neben ihr sitzt als Übersetzerin die 15-jährige KFG-Gymnasiastin Olessya, die aus Kasachstan vor drei Jahren nach Bad Homburg kam und außer Deutsch auch Polnisch und Russisch beherrscht – „mit der Mischung kann man sich gut mit Ukrainern verständigen“, lacht sie. Olessya hilft am KFG als „Patin“ ukrainischen Mitschülern, ebenso wie weitere Schüler der Homburger Schulen, die Russisch und Deutsch fließend sprechen und nun den Jugendtreff besuchen.

Was Danylo und Daria sich am meisten wünschen? Außer Zukunftsplänen wie Malen und Musik machen sagen beide: „Wir wollen, dass unsere ganze Familie hier sein könnte, aber wir wollen auch wieder nach Hause, beides so sehr!“. Und Daria meint: „Wir fühlen uns hier gerade gut und glücklich.“

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