Bad Homburg (js). Der Bergdoktor reüssiert auch als Solist mit Background-Orchester im Kurtheater. Als Wortreisender durch die Welt eines Helden der Jugendzeit vieler, die an diesem heißen Sonntagnachmittag das angenehme Halbdunkel im Saal dem strahlenden UV-Licht draußen in der gleißenden Kurstadt vorziehen. Sich lieber der charmanten Stimme von Hans Sigl hingeben, die auch noch angenehm im Ohr ankommt, wenn das Drama in ungefähr acht Akten seinen unheilvollen Verlauf nimmt.
Der Bergdoktor begeistert seine Fangemeinde auch als Lesender, als hätte er den Geist von Alexandre Dumas’ Graf von Monte Christo einst beim Lesen der mehr als 1400 Seiten mit der Bergluft am Wilden Kaiser inhaliert. Die Menschen hier mögen ihn wirklich sehr, Hans Sigl wird mit viel mehr als freundlichem Applaus im nahezu ausverkauften Haus empfangen, zweieinhalb Stunden später mit tosendem Beifall verabschiedet.
Dazwischen hängen sie an seinen Lippen. Alle, konzentriert lauschend, wie Hans Sigl im Literaten-Schwarz mit hellen Sneakern allein am kleinen Tisch auf der Bühne bei knappem Licht das monumentale Werk des Alexandre Dumas in perfekt für die Lesung komprimiertem Format liest. Vom ersten Satz, der die Einfahrt des Schiffes „Pharaon“ mit dem jungen Seemann Edmond Dantès beschreibt, bis zu dessen Erkenntnis der ganzen menschlichen Weisheit am Schluss. Dass es weder Glück noch Unglück auf dieser Welt gibt, sondern nur Warten und Hoffen. Und wie gut es ist, zu leben.
Nicht mal das Umblättern der Seiten ist in der andächtigen Stille zu hören, am Tablet wird lautlos geblättert. Nur einmal zerreißt der Klingelton eines Handys die andächtige Stille, es geht gerade um Gott und Verzweiflung in den Hirnwindungen des zu Unrecht eingekerkerten Edmond. „Licht an, zeigt ihn mir, wer war’s?“, deklamiert Sigl spontan mit lauter Stimme in die Richtung, aus der jener unziemliche Ton kam. Die Improvisation am Rand kommt gut an, vereinbart war Funkstille im Handyraum während der Veranstaltung. Charmant einen persönlichen Ärger mit zart verkniffenem Lächeln überspielen, das kann nicht nur der Bergdoktor. „Wir schaffen das!“ Licht aus, weiter mit Gott und Verzweiflung im Kerker.
Das 14. Literaturfestival in der Kurstadt hat Fahrt aufgenommen am zweiten Wochenende. Als „definitives Festival-Highlight“ durch die Untermalung mit „wuchtiger orchestraler Klassik“ wird die Lesung mit Hans Sigl annonciert. Eine „Leseoper“ verspricht gar der künstlerische Leiter Bernd Hoffmann bei der Begrüßung im Theatersaal. Und verrät auch, was längst nicht alle wissen. Dass der Journalist Alexandre Dumas den Stoff für die Geschichte des Grafen einst als Fortsetzungsroman für das Feuilleton einer Zeitung konzipiert hat. Um die 150 Folgen sollen es wohl geworden sein, der Roman hat 117 Kapitel, Sigl vereint die Essenz des Werks in jenen ungefähr acht Akten seiner vom ersten bis zum letzten Satz spannenden durchkomponierten Lesung. Nichts fehlt. Die kurzen musikalischen Pausen sind angenehme Mittler zwischen den dramatischen Höhepunkten für Nachsinnen, Meditation, Sammlung und den Aufbau neuer Konzentration auf das Wesentliche an diesem späten Nachmittag. Die große Geschichte des geheimnisvollen Grafen von Monte Christo, den Gérard Depardieu einst so schön im Film verkörperte, und die Stimme von Hans Sigl.
Den guten Ton beherrscht Hans Sigl auch im kurzen Nachspiel. Bedankt sich zuerst mit Beifall und großer Geste beim Ersten Geiger des kleinen Ensembles des HR-Sinfonie-Orchesters, mit Verbeugungen beim begeisterten Publikum. „Es war ein Fest“, sagt er zum Dank und macht Hoffnung auf ein Wiedersehen im kommenden Jahr beim dann 15. Poesie- und Literaturfestival. Dann wird es höchste Zeit, so schnell zu entschwinden, wie er gekommen ist. Am Wilden Kaiser sind die TV-Kameras aufgebaut, am nächsten Tag in der Frühe wird er am Set erwartet. Auch mit dem Bergdoktor muss es weitergehen, das ist er seiner Fangemeinde auf der anderen Ebene schuldig.
Das sehen sie ihm nach, nur ein bisschen wird gemurrt, dass keine Zeit bleibt für direkten Kontakt bei der üblichen Signierstunde nach einer Lesung. Warum auch, er hat das Buch ja nicht geschrieben, aus dem er liest. Und doch gibt es im Vorraum am Stand einer örtlichen Buchhandlung 50 mit „Danke“ und dem aktuellen Datum von Hans Sigl signierte Exemplare des „Graf von Monte Christo“. Hat er vor dem Auftritt schnell in der Maske erledigt. Ganz freundlich, wie der Kurdirektor in der Pause glaubhaft versichert. Aber jetzt muss er wirklich schnell weg. Ob er mit dem grünen Mercedes des Bergdoktors zum Sonnenuntergang zurück ins Alpenland gefahren ist, wer weiß das schon?