Mit „Ente“ und Vespa im Temporausch

Stefan Rohrer und sein Hauptwerk für die Soloausstellung: Die aufgedehnte „Ente“ mit Schnecken-Image bei hochpotenzierter Fliehkraft-Dynamik füllt die große Halle fast alleine. Kleinere Wandplastiken mit filigraner Technik sind korrespondierende Meisterstücke. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Bad Homburg. Allein mit der wegdriftenden „Ente“ im sakralen Raum. Die Morgensonne wirft sanft-gelbes Licht durch die alten Kirchenfenster der heutigen Jakobshallen. Keiner da, niemand drin, das ist gut so. Wer Glück hat, kann diesen Moment erleben. Die himmelblaue Ente braucht das gesamte begrenzte Universum der einstigen Jakobskirche für ihren Ausflug im transformierten Zustand weiter und weiter hinaus irgendwohin in eine imaginäre Welt.

Und gleichzeitig braucht die Halle nicht mehr als die Ente und ein bisschen Ornamentik an den hellen Wänden, fast zierliche Wandplastiken, die das Thema Geschwindigkeit und Dynamik in komprimierter und doch ausufernder Form in vielen Ausprägungen aufnehmen. Zierendes Beiwerk und doch in jedem Detail einzigartige Kompositionen.

Allein mit der „Ente“ im sakralen Raum. Ein wunderbarer Augenblick, Auflösung von Raum, Zeit und Bewegung, Stillstand und rasende Fliehkräfte im schwindelnden Strudel zeitgleich, eine Ikone der automobilen Schöpferkraft in verfeinerter Form, in einer Zeitrafferaufnahme. Allein mit der wegdriftenden „Ente“ und ihren ornamentalen Begleitern im säkularisierten sakralen Raum, mehr braucht es nicht, um sich in diesen Strudel ziehen zu lassen. In die Ambivalenz automobiler Geschwindigkeit, würde Stefan Rohrer vielleicht sagen, der Schöpfer dieser Parallelwelt des bisweilen religiös verehrten Automobilismus. „Meine Arbeiten vereinen Bewegung und Erstarrung, Realität und Täuschung, Spiel und Ernst.“

Traumberuf: Auto-Designer

Stefan Rohrer liebt Autos, das er „irgendwann mal was mit Autos machen würde“ war ihm schon als Junge klar, sagt er im Gespräch in der Galerie. Auto-Designer, das war so ein Traum des Sohns eines Architekten. Doch vor den Fliehkräften, die ihn stets inspirierten, kam die ruhende Kraft im Stein. Aber auch dabei ging es um Freisetzung von mehr als nur dem groben Klotz. Rohrer, 1968 in Göppingen geboren, wurde Steinmetzmeister, klares Handwerk mit Liebe zum Detail, Kirchenkunst, Barock-Ornamentik. Dann Studium der Bildhauerei, bis die Autos „gewaltig zurückkamen“ und seine Kunst bestimmten.

Es passt, dass diese in den Jakobshallen von Galerist Christian Scheffel zu sehen ist. Bei der Eröffnungsausstellung 2016 war Rohrer auch schon zu sehen, bei der Skulpturenbiennale „Blickachsen“ ebenfalls, seine verformten Autos und Vespas sorgten stets für Aufsehen und viel Interesse. Die aktuelle Schau „Drift“ ist Stefan Rohrers erste Soloausstellung in den Räumen der ehemaligen Jakobskirche, die später als Turnhalle genutzt wurde, ehe Christian Scheffel ihr transformiertes Leben einhauchte.

Stefan Rohrer ist stets Handwerker geblieben. Gemischt mit schöpferischem Geschick verfremdet er die Grundform seiner Autokarosserien und Motorroller, zerlegt, dehnt, streckt, verformt, dengelt und biegt, lackiert und schafft ein neues Wesen. Ausgangspunkt sind immer Modellautos, die dynamische „Ente“ etwa, der viel geliebte 2CV, ist im Vorraum als Modell zu sehen, Stahl und Lack auf 22 mal 28 mal elf Zentimeter, als Einzelstück in der großen Halle misst „Entzwei 2“, so der Titel, 190 mal 400 mal 120 Zentimeter und reicht für eine Stunde Meditation über den Rausch der Geschwindigkeit, eingefrorene Dynamik, nicht zu bändigende Fliehkräfte wie in einer dreidimensionalen Comic-Zeichnung.

Autofreaks werden ihre Freude haben bei der Ausstellung, so viele Geschichten, die sich um jedes zu sehende Modell ranken, so viele Gespräche über Kindheit und Jugend, über Väter und Großväter und ihre Autos spinnen sich schnell zusammen.

Selbst Ölflecken erzählen Geschichten, lernt man da. Von Stefan Rohrer meisterhaft mit Motoröl und Bleistift auf Papier gezeichnet, Geschichten aus dem Innenleben der Protagonisten, wie fischige Lebewesen, Quallen gleich kommen sie daher, vom glänzenden Lack abgetrennt in ihrer nur noch rudimentären Existenzform. Ausgeschlachtet. Mit Fettflecken auf dem Papier, zu sehen im Nebenraum, in dem sich auch die „Vespa azzurro chiaro“ geschmeidig um einen geschmeidigen Laternenpfahl windet.

!Die Ausstellung „Drift“ ist bis zum 10. September zu sehen. Öffnungszeiten der Jakobshallen in der Dorotheenstraße 5 sind mittwochs bis freitags von 14 bis 19 Uhr und samstags von 11 bis 15 Uhr.

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