„Ich hätte es mir nie verziehen, es nicht versucht zu haben“

Christina Holte, Geschichts- und Franzö­sischlehrerin am KFG, begrüßt Jutta Fleck und ihre Tochter Beate Gallus (v. l.) in der Aula zu den zweitägigen Projekttagen mit Zeitzeugengesprächen. Foto: fch

Bad Homburg (fch). Einen alltagshistorischen Zugang zur deutsch-deutschen Geschichte vermittelten Jutta Fleck, bekannt als „Die Frau vom Checkpoint Charlie“, und ihre Tochter Beate Gallus an zwei Tagen Neuntklässlern und Abiturienten am Kaiserin-Friedrich- Gymnasium (KFG). Auf Einladung von Christina Holte, Geschichts- und Französischlehrerin am KFG, schilderte Jutta Fleck ihren verzweifelten Kampf um ihre Töchter Claudia und Beate.

Nach einem gescheiterten Fluchtversuch 1982 wurde Jutta Fleck, damals noch Gallus, von den DDR-Behörden inhaftiert. Ihre Töchter Claudia, damals elf Jahre alt, und Beate (neun Jahre) kamen ins Heim. Nach zwei Jahren wurde die Mutter vom Westen freigekauft, kam im April 1984 nach Gießen. Sie begann verzweifelt, um ihre Kinder zu kämpfen. Sie stand bei Wind und Wetter am Grenzübergang Checkpoint Charlie. Dabei hatte sie ein Plakat, auf dem stand: „Gebt mir meine Kinder zurück!“, und auf ihrem Rücken ein weiteres befestigt mit der Aufschrift „Was Menschen verbindet, können Grenzen nicht trennen“. Bis die Mutter ihre Töchter wieder in ihre Arme schließen konnte, sollten vier lange Jahre vergehen.

Mutter und Tochter schilderten den Schülern ihre Geschichte. „Was die eine oder andere selbst erlebt hat, das ist unsere eigentliche Geschichte“, sagte die Tochter. Die Mutter schilderte ihre Beweggründe, die sie zur Flucht veranlasst hatten. „Ich war kein Revoluzzer, ich rief nicht zum Widerstand auf. Ich wollte, dass meine Kinder frei sind und ein selbstbestimmtes Leben führen können.“ Die Knüppelpolitik der SED sei einfach widerlich gewesen, das verstaatlichte Denken, der Pionier- und FDJ-Zwang. Jutta Fleck beschloss, mit ihren Kindern in den Westen zu fliehen. „Ich wollte den ganzen sozialistischen Kram samt Parteigesülze und Friedenspanzer inklusive deutsch-sowjetischer Freundschaft ein für alle Mal begraben. Ich hätte es mir nie verziehen, es nicht wenigstens versucht zu haben.“

Doch die Flucht über Rumänien und Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland scheiterte. Die Mutter wurde in Bukarest inhaftiert und in die DDR überführt. Dort wurde sie wegen Republikflucht nach Paragraf 213 StGB zu drei Jahren Haft in der berüchtigten Strafvollzugsanstalt Stollberg/Hoheneck verurteilt. Sie berichtete von Verhören, Einzelhaft, Drohungen und wie sie unter dem Verlust ihrer Kinder litt.

Ihre Töchter kamen ins Heim wie insgesamt 3000 andere Kinder. „Zum Teil sind die Kinder gar nicht mehr aufgetaucht, die Familien wurden gewaltsam auseinandergerissen.“ Ihre Töchter wurden mit Desinformationen bombardiert. Unter anderem hieß es, dass ihre Mutter wieder geheiratet hätte und ihre Kinder nicht mehr haben wollte. Die Tochter schilderte, dass sie und ihre Schwester nicht mit anderen Kindern über ihre Gedanken und Pläne sprachen. Zudem musste Beate Gallus Erzieher fragen, wenn sie ihre Schwester Claudia sehen wollte. Sie berichtete von ihren Erfahrungen mit dem DDR-System, die sie als Kind und Jugendliche aufgrund der gescheiterten Flucht und durch die Zwangstrennung von der Mutter (politischer Häftling) gemacht hatte. Dazu gehörte auch der Zwangsaufenthalt im staatlichen Kinderheim der DDR und der Umgang mit ihr in der Schule. Sie berichtete über die jahrelange „Bespitzelung und Überwachung“ in der DDR, davon, wie sie und die Schwester bedroht, in ihren Freiheiten eingeschränkt und erpresst wurden. Angst, Sehnsucht, Trennung und Schmerz begleiteten sie ständig.

Jutta Fleck stellte klar, dass es sich bei den Freikäufen oder Austausch von Personen mit dem Westen um Chefsache von Erich Honecker gehandelt habe. Und sie beurteilte die Rolle von Rechtsanwalt Vogel als kritisch: „Er war Teil des Systems.“ Beate Gallus schilderte, wie sie von Ost- nach West-Berlin überführt wurde. „Du bist vom Osten in den Westen Berlins gefahren, und alles war auf einmal bunt, und die Leute lachten. Es war eine andere, schöne Welt. Ich kam aus einer Mangelwirtschaft in eine Überflussgesellschaft. Ich war 15 Jahre alt und kannte vieles wie Nektarinen nicht. Alles war neu, und ich konnte hingehen, wo und wann ich wollte.“

Auf die Frage der Schüler, was außer der Freiheit für Jutta Fleck am Westen das Schönste gewesen sei, sagte sie: „Die 150 D-Mark Begrüßungsgeld in Gießen.“ Sie kaufte sich Blumen. „Es roch ganz anders als im Osten. Es war alles grüner und sauberer, und ich war endlich frei.“ In ihren Erzählungen und Erinnerungen, in der Schilderung von kleinen und großen Ereignissen, ließen die beiden Frauen ihre Vergangenheit lebendig werden. Sie nahmen die Schüler mit auf eine ganzheitliche Zeitreise in die Vergangenheit, von der Teilung Deutschlands, der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, dem Mauerbau bis hin zu dem daraus resultierenden Schmerz und Leid für unzählige Familien. Beate Gallus persönliche Erlebnisse bestärkten sie, ihre Initiative „HerzFace“ ins Leben zu rufen, deren Ursprung auf eine Zeichnung aus der Zeit der Trennung von ihrer Mutter zurückzuführen ist. Abgebildet ist diese im Buch „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ von Ines Veith. Außer den Schilderungen der beiden Frauen wurde die Dokumentation zum TV-Zweiteiler „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ gezeigt. ARD/ARTE verfilmte die Geschichte mit Veronica Ferres in der Hauptrolle nach dem gleichnamigen Buch.



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