Das Herz frei für den treuen Husaren

Heinz Humpert und Christa Fink sichten, ordnen und übersetzen in Fleißarbeit die Korrespondenz aus dem Ersten Weltkrieg. Foto: a.ber

 

Von Astrid Bergner

Bad Homburg. „Sei einstweilen herzlich gegrüßt und geküsst von deinem dich liebenden Martin“: Am 31. August 1915 schrieb der Husar Martin Wagner diesen Gruß an seine Freundin Ottilie Meireis. Der junge Mann aus Gonzenheim, zum Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg eingezogen, befand sich in Potsdam beim Heer. Wenig später musste Martin Wagner, damals 22 Jahre alt, nach Russland ausrücken. Mit viel Herzblut haben sich der junge Soldat und seine 16-jährige Freundin damals geschrieben: erst viele Feldpostkarten, später Briefe.

Vom 17. Juli 1915 bis zum 15. Januar 1919 gingen insgesamt 743 Stück Feldpost hin und her. Dass diese in der alten Sütterlinschrift verfasste Korrespondenz noch erhalten ist und nun Stück für Stück übersetzt wird, ist drei Menschen zu verdanken, die damit einen persönlichen geschichtlichen Schatz für die Nachwelt sichern: Jahrzehnte lagen die Feldpostbriefe in einem weißen Karton auf dem Dachboden der gebürtigen Gonzenheimerin Marion Port geborene Hille in Ober-Eschbach; gefunden hat sie der stellvertretende Vorsitzende des Geschichtlichen Arbeitskreises Gonzenheim (GAG), Heinz Humpert, bei der Haushaltsauflösung der Familie Port, und aus der Sütterlinschrift übertragen werden sie nun von Christa Fink, Mitglied im Geschichtlichen Arbeitskreis.
„Es ist eine Geschichte, die Rosamunde Pilcher geschrieben haben könnte“, sagt Christa Fink, die mit Heinz Humpert vor dem geöffneten Karton am Wohnzimmertisch in Alt Gonzenheim sitzt. Behutsam nehmen die beiden Karten in die Hand, auf deren Vorderseite zu Beginn der Korrespondenz noch bunte Bilder zu sehen sind, später nur noch blasse, mit Bleistift geschriebene Zeilen aus dem Schützengraben in Russland.
Kennengelernt haben sich Martin Wagner, der von der Familie Wagner aus dem Gonzenheimer Haberweg 7 abstammte, und Ottilie Meireis wohl in Mainz, wo der junge Mann zu Beginn des Ersten Weltkriegs stationiert war. Ottilie, die in Wiesbaden-Bierstadt wohnte, fand Gefallen an dem fünf Jahre Älteren, und im Juli 1915 gingen die ersten Briefe hin und her. „Damals waren die beiden noch per Sie“, erzählt Christa Fink. Ende August hieß es dann: „Wir wollen von heute ab offen unsere Liebe zueinander bekennen.“ Da war Martin Wagner gerade zum Kriegsdienst nach Potsdam abkommandiert worden. Viel ist in den ersten Briefen von der Freiheit der Herzen, von Offenheit und ungetrübter Liebe zu lesen.

Der junge Mann von der Post

 „Es ist ja, wenn man darüber nachdenkt, eine ganz romantische Sache, wie wir uns kennen lernten, aber jedenfalls war das in Gottes Vorsorge so bestimmt“, schreibt Martin Wagner seiner geliebten Tilli am 31. August 1915 nach Bierstadt. Herzschmerz und Eifersucht blieben aber nicht aus. „Wie ich deine ersten Briefe erhielt, war ich in dem festen Glauben, daß du noch keine Bekanntschaft mit unserem Geschlecht gemacht hattest und ahnte das von dem Postmensch noch nicht. (…) Denken hätte ich es mir aber wohl können, denn ein solches Mädchen wie du fällt schon auf mit ihrem blonden Köpfchen und dem flinken Wesen“, heißt es – der junge Soldat, der schwere Fußmärsche und stundenlanges Scharfschießen hinter sich bringen musste, spürte wohl einen Aufruhr in seinem Herzen, ob seine Freundin zu Hause sich nicht derweil mit anderen Männern vergnügte.
Doch Ottilie Meireis war treu. In „huddeliger Schrift, die schwer lesbar ist“, habe die junge Dame ihrem Herzensmann ihre Liebe versichert, so Christa Fink, die bisher 372 der 743 Feldpostkarten und -briefe übersetzt hat. „Ich liebe Dich!“, „Wie geht es Dir?“, „Bist Du noch gesund?“, fragte sie immer wieder. Im Dezember 1916 kam Martin Wagner für einen kurzen Heimaturlaub von der Front, kurze Zeit später schrieb er wieder aus einem Kriegslazarett in Warschau. Ottilie hatte inzwischen den „jungen Mann von der Post“, einen Freund ihrer Eltern, endgültig abgewiesen – „mein Herz ist jetzt frei“, schreibt sie. Wann die beiden Liebenden beschlossen, zu heiraten, ist nicht überliefert, jedoch zog Ottilie Meireis vor der Hochzeit, die 1919 gefeiert wurde, für einige Zeit zu ihren Schwiegereltern in Spe nach Bad Homburg in den Haberweg 7. Wenig später kehrte sie jedoch erstmal in ihr Elternhaus nach Wiesbaden zurück, sie hatte sich mit dem zukünftigen Schwiegervater Georg Wagner zerstritten. Christa Fink und Heinz Humpert vom Geschichtlichen Arbeitskreis zeigen auf eine Fotografie des Husaren mit Sporen an den Hacken, die er Ottilie aus dem Feld schickte. „Die Sporen sind noch vorhanden“, so Humpert.
Er suchte nach dem Fund der Feldpost den mittlerweile 98-jährigen Sohn von Martin und Ottilie auf: Heinz Wagner, geboren 1921 in Gonzenheim, wohnt heute noch im Familienhaus im Haberweg 7. Er habe nichts gewusst von dem großen Briefwechsel seiner Eltern. Doch konnte er dem Geschichtlichen Arbeitskreis Gonzenheim drei große Fotografien seiner Eltern zur Verfügung stellen. Diese alten Fotos werden gemeinsam mit einer Auswahl der Feldpost beim 100-jährigen Jubiläum der Neuapostolischen Gemeinde in Bad Homburg im Juni 2020 ausgestellt werden. Martin Wagner und seine Ottilie, beide zuvor evangelisch gewesen, waren 1920 nämlich neuapostolisch geworden. Die ersten Gottesdienste der neugegründeten Bad Homburger Gemeinde fanden in Martin Wagners Wohnzimmer im Haberweg statt. 1921 wurde Martin Wagner erst Diakon, dann erster Priester der Neuapostoliker in Bad Homburg. Bis 1958 war er auch erster Vorsteher der Gemeinde.
Zwei bis drei Stunden täglich übersetzt Christa Fink aus den Briefen. Sie hält eine Karte hoch, die mit „Dein treuer Husar“ unterschrieben ist. Heinz Humpert zitiert dazu das alte Lied „Es war einmal ein treuer Husar, der liebt sein Mädel ein ganzes Jahr, ein ganzes Jahr und noch viel mehr, die Liebe nahm kein Ende mehr“. Martin Wagner und Ottilie geborene Meireis starben 1970 beziehungsweise 1975. Ihre Korrespondenz ist, anders als es im digitalen Zeitalter wohl der Fall sein wird, erhalten. Sie zeugt von einer innigen Liebe, die in vielen handschriftlich geschriebenen Sätzen zum Ausdruck kommt. Der Geschichtliche Arbeitskreis bewahrt diesen Schatz auf – aber wäre diese Geschichte nicht mal ein Anreiz, zu Briefbogen und Stift zu greifen, und seinen Liebsten nah und fern nicht nur E-Mails und WhatsApps, sondern einen echten Brief zu schreiben?



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