Bad Homburg. „Ich habe Dir ja meine Meinung geschrieben, und wenn Du mir nicht mehr antworten willst, dann soll es mir auch recht sein. Mit Gruß Otti – Ich habe auch einen dicken Kopf!“ So endet der letzte vorhandene Feldpostbrief der 19 Jahre jungen Ottilie Meireis, am 6. Oktober 1918 aus Mainz-Kastel abgeschickt an den fünf Jahre älteren Husaren Martin Wagner in der Genesenen-Abteilung der Kavallerie in Potsdam.
Aus und vorbei? Dem jungen Paar, das sich im Sommer 1915 in einem Mainzer Lazarett begegnet war und nach wenigen Tagen intensiven Kennenlernens durch die Versetzung des frischgebackenen, aus Gonzenheim stammenden Soldaten nach Krefeld auseinandergerissen wurde, schien kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs nichts zu bleiben als die Trümmer ihrer Fernbeziehung. Und das, nachdem die beiden sich drei Jahre lang gegenseitig Feldpostbriefe und -karten geschickt hatten: Die gelernte Postangestellte schrieb von Wiesbaden-Bierstadt und später von Gonzenheim aus an die Front, der Soldat, Sohn einer alteingesessenen Gonzenheimer Familie, schrieb seit November 1915 von einem langen Fronteinsatz aus Russland und der Ukraine.
Christa Fink streicht ihr dunkelblaues Kleid aus Baumwolle, Spitze und Tüll glatt, ein Original aus der Zeit um 1900 – ohne Korsett, ein sogenanntes „Reformkleid“. „Martin schrieb in einem seiner Briefe, Otti solle doch das Korsett weglassen“, schmunzelt Fink und stellt sich neben Heinz Humpert auf, der in roter Dragoner-Uniform mit Goldknöpfen in der großen Stube im Erdgeschoss seines Hauses in Alt-Gonzenheim Aufstellung nimmt, salutiert und den Husarendegen in roter Samt-Scheide vor sich auf den Tisch legt.
Der Maschinenbau-Ingenieur und Heimatforscher und die ehemalige Universitäts-Angestellte schlagen Exemplare des 600 Seiten dicken Buches auf, das sie gerade veröffentlicht haben: „Es waren einmal ein treuer Husar und seine Freundin. Feldpost-Liebesbriefe aus dem 1. Weltkrieg geschrieben von Martin Wagner und Ottilie Meireis“. Und fangen an zu rezitieren, Otti und Martin: aus 857 erhaltenen Briefen und Karten, die von Treue und tiefer Sehnsucht, Enttäuschung und Hoffnung zeugen. Wo vier kurze Begegnungen während der Kriegsjahre beim Heimaturlaub Martin Wagners nicht ausreichen, um Eifersüchteleien, Unterstellungen und Missverständnissen vorzubeugen; wo fast täglich hin und her geschrieben wird und das eifrige Warten auf Antwort und Zählen der Postsendungen den Austausch von Angesicht zu Angesicht und Berührungen nicht ersetzen können – trotzdem jeder sich bemüht, dem geliebten Du Alltag und Gefühle im Detail zu schildern.
Und doch zeugt dieser einzigartig umfangreiche Briefwechsel von großer Herzenskraft und Herzenstreue. Dem Zerwürfnis 1918 folgte nach mehr als einem Jahr die Verlobung: Martin Wagner und Ottilie Meireis heirateten 1920 auf dem Standesamt in Gonzenheim.
„Nach dem letzten Feldpostbrief setzt das Kopfkino des Lesers ein: Wie sind die beiden nur wieder zusammengekommen?“, fragt Christa Fink. Überraschungen gab es bei der Causa Feldpostbriefe, der sich Heinz Humpert und Christa Fink seit 2019 mit viel Fleiß widmen, eine Menge. Die ehemalige Gonzenheimerin Marion Port geb. Hille hatte beim Entrümpeln des Hauses ihres verstorbenen Stiefbruders Karl-Heinz Bechthold am Bornberg in einem Container vor dem Haus zufällig eine Kiste mit zahlreichen Briefen entdeckt und mitgenommen. Als sie merkte, dass es eine Feldpost-Korrespondenz aus dem Ersten Weltkrieg war, brachte Marion Port sie zum Gonzenheimer Heimatforscher Heinz Humpert.
An „Mein Goldschätzchen“
Wie die Feldpostkiste in den Besitz von Karl-Heinz Bechthold gelangt war, der weitläufig mit der Familie Wagner verwandt war, wisse er nicht, sagt Humpert. Er kontaktierte den noch im Bad Homburger Ortsteil Gonzenheim lebenden, 1921 geborenen Sohn von Ottilie und Martin Wagner, Heinrich Wagner, der von dem Briefwechsel seiner Eltern nichts wusste. Er war begeistert, als Christa Fink und Heinz Humpert ihm zu seinem 100. Geburtstag im September 2021 den fertigen Band mit den transkribierten Briefen und Postkarten überreichten.
Eine Fleißarbeit war es, die 554 in altdeutscher sütterlinähnlicher Schrift verfassten Karten und Briefe Martin Wagners an seine „Geliebte Tilli“ oder „Innigst geliebte Otti“ zu entziffern, noch schwieriger, die erhaltenen 303 Poststücke von Ottilie Meireis an „Mein Goldschätzchen“ zu transkribieren. „Martin war gebildeter und schriftgewandter als Ottilie, sie hatte eine huschelige Schrift und mangelnde Grammatikkenntnisse“, erzählt Christa Fink. Hilfe bekamen die Feldpost-Forscher von der jungen Maria-Ward-Schülerin Nele Heinz und ihrem Religionslehrer bei den Transkriptionen sowie von einer Bewohnerin des Mathilde-Zimmer-Stifts, Eva Wortmann. Alle vertieften sich in die beiden Protagonisten.
Die reden sich in den ersten Grüßen im Juli 1915 noch mit „Sie“ an. Bald geht es vertrauter zu, Fotoporträts werden ausgetauscht. Der Husar gibt Einblicke in den Alltag an der russischen Front, das „Mädel“ berichtet vom Kohlemangel daheim. Stets wird höflich, doch munter und ehrlich geschrieben. „Ich will ganz offen & ehrlich sein… Du hast mir mit Deinem schönen Scheitel besser gefallen!“, schreibt Martin über Ottilies moderne Pony-Fransen. Im Verlauf wird deutlich, dass Martin Wagner einem damals von der Jugendbewegung gepflegten konservativen Frauenbild anhing. „Eine bodenständige, aufrichtige, tüchtige Ehefrau in Reinheit und seelischem Einklang mit ihrem Mann wünschte er sich“, so Christa Fink über das damals verbreitete Ideal. Doch Ottilie, die Verehrer wie den „Postmenschen“ standhaft zurückweist, deshalb ihre Anstellung auf dem Wiesbadener Postamt aufgibt und Ende 1917 sogar ihrem Martin zuliebe zu dessen Eltern nach Gonzenheim zieht, hat ihren eigenen Kopf: Unstimmigkeiten mit den Schwiegereltern in spe führen dazu, dass sie im Oktober 1918 dort wieder auszieht – Wut und Enttäuschung Martins folgen, der aus der Ferne Briefe an die Eltern Meireis und seine eigenen Eltern schickt. Das Motiv seiner Feldpostkarte an Ottilie – Birken vor düsteren Wolken – sagt viel. „Das ist wirklich eine heiße Geschichte von Höhen und Tiefen einer Beziehung, und sie gibt einen umfassenden Einblick in das Leben und Denken eines jungen Paars im Krieg“, resümiert Christa Fink.
Dass beide aus einem religiös geprägten Elternhaus stammten, mag später zur Versöhnung beigetragen haben. 1923 wird Martin Wagner, in dessen Elternhaus im Haberweg 7 im Jahr 1920 die Neuapostolische Gemeinde Bad Homburg gegründet wurde, zum Gemeindevorsteher und Priester der Neuapostoliker in der Kurstadt ernannt. Auch dieser Aspekt findet im Buch in einem Kapitel über die Entwicklung der Neuapostolischen Kirche Bad Homburg seinen Niederschlag, ebenso wie hochinteressante Fakten über das Phänomen der „Feldpost“ im Ersten Weltkrieg, die Christa Fink zusammengetragen hat. Heinz Humpert ordnet im Vorwort die Protagonisten geschichtlich ein und berichtet spannend über das Zustandekommen des Projekts Feldpostbriefe, mit dem er und seine Mitforscherin sich 2020 erfolgreich um den Status „Stadthistoriker“ bewarben: Mit Hilfe der finanziellen Förderung des Stadthistoriker-Wettbewerbs und aus Eigenmitteln haben sie nun 150 Exemplare ihres Buches gedruckt. Zahlreiche Lesungen sollen folgen.
Heinz Humpert blättert in einem der dicken Ordner, in denen die originalen Briefe und Postkarten chronologisch sortiert unter säurefreien Schutzfolien liegen. „Die Motive der Feldpostkarten sind wunderschön“, sagt er und zeigt eine Karte mit dem Spruch „Wie könnt‘ ich Dein vergessen!“, auf der ein junges „Frauenzimmer“ sinnierend daheim einen Brief liest, an der Wand hinter ihr ein Soldatenbild mit einem strammen jungen Mann. Viele der aussagestarken Feldpostkarten-Motive sind in dem Buch mit abgedruckt. Bei allem Spaß, den Christa Fink und Heinz Humpert bei ihrem Projekt haben, bleibt doch die Dramatik dieser Liebesgeschichte nicht verborgen: „Du fragst mich, wie ich die Feiertage verlebt hätte“ schreibt Ottilie Meireis im Sommer 1917 nach Russland, „es ging mir wie Dir, mein Engel, ich hatte auch nicht viel davon. Vielleicht kommen auch noch mal für uns schönere Tage.“
!Das Buch „Es waren einmal ein treuer Husar und seine Freundin“ von Christa Fink und Heinz Humpert kostet 45 Euro und ist bei den Autoren unter Telefon 06172-450134 oder per E-Mail an heinz.humpert[at]gmx[dot]de und christafink[at]gmx[dot]de zu bestellen.