Roger Willemsens Zukunftsrede, gelesen von Katty Salié

Katty Salié weiß sich an diesem Abend zurückzunehmen und lässt dem Text den Vortritt. Sie liest viel Denkwürdiges aus der weisen Zukunftsrede von Roger Willemsen. Foto: hw

Bad Homburg (nl). Er konnte Leute in Trance reden, erklärt die Kulturmoderatorin Katty Salié mit charmant nachsichtiger Miene. In ihrer kurzen Einführung zum Autor Willemsen merkt die ZDF-Aspekte-Frau salopp und sehr liebevoll treffend an, wie sehr dieser Mann vom Denken bestimmt war und das offenbar auch jeden gern wissen ließ.

Im Lauf des Abends und nach einigen kontinuierlich aneinandergereihten kulturpessimistischen Ausblicken des verstorbenen Tausendsassas kommt dann noch der Gedanke hinzu, dieser kritische Geist Willemsen könnte genauso gut – gemessen an seinem wenig vertrauensvollen Blick auf seine Mitmenschen – auch als der Schopenhauer-Sohn des 21. Jahrhunderts gelten. Der, der zwar lebensverliebt war, so Katty Salié, die ihn als Moderationskollegen noch kennenlernte. Doch Willemsen war dabei volle Kraft voraus stets auf tiefschürfendem Kurs unterwegs zu den Abgründen einer technikgläubigen Gesellschaft.

Katty Salíe lässt zwischen den Zeilen mit ihrer sehr kurzweilig anekdotischen, trotzdem nachdenklichen Einleitung in den Abend, erahnen, dass Willemsens Zeilen dem Publikum gleich einen kritischen (Zerr-) Spiegel vor Augen halten wird. Doch ihr gelingt dazu ein Rahmenprogramm mit Glamourhauch und ironischer Leichtigkeit und damit ein vermittelnder Drahtseilakt. Sie weiß mit ihrer gekonnten Lesart den sperrigen Text mit dem Publikum zu versöhnen. Katty Salié macht den Abend zu einem intellektuellen tête-à-tête.

Wer war eigentlich dieser Roger Willemsen. Dieser Intellektuelle des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Sozusagen, the Brain. Oder auch der mit den neugierig geweiteten Augen. Der, der einem durch die klischeehaft dicke Hornbrille stets offen freundlich entgegenblickte. Schon bei der Recherche wird es umfangreich. Seine Ausnahme-Vita hat den Umfang eines eigenen kleinen Kompendiums. Nach Unikarriere, vielen Auslandsaufenthalten und journalistisch wie reiseschriftstellerischen Stationen landete er – um es ganz kurz zu fassen – auf vielen vielen Um- und Nebenwegen in seiner eigenen Talkshow am Freitagabend. Damit nicht genug produzierte er auch selbst. Vieles davon mit hohem Anspruch. Qualitätsfernsehen eben. Nachdem er schon mit 60 Jahren 2016 einem kurzen Leiden erlag, drängt sich einem aus heutiger Sicht das Bild auf, seine Lebenskerze könnte gleich an beiden Enden gebrannt haben.

Nonstop über die Sinnhaftigkeit des Lebens nachdenkend, lag es für ihn, den akribischen Analytiker des Weltschmerzes, näher, beim Anblick eines Sonnenuntergangs das Symbol einer Bildtapete zu deuten. Natur als ein Abklatsch des 70er-Jahre-Wohnstils. Eins war er offensichtlich nicht: der Romantik auf der Spur. Dem puren Gefühl erteilte Roger Willemsen einen gründlichen Abgesang. Insofern war der Abend trotz der großartig vorgetragenen Texte inhaltlich recht schwere Kost. Dem wusste aber der Veranstalter des Literatur- und Poesiefestivals zusammen mit dem Steigenberger Hotel stilvoll vorzubauen. Noch bevor die Kultur zum Zug kam, gab es zum Auftakt ein Gläschen Champagner und köstliche Kanapees.

Denn was dann an diesem komplett ausgebuchten Abend abging, das war der Lichtblick, der helle Schein eines hoffnungsvollen Blicks auf uns, die digitalisierte Gesellschaft. Willemsen analysiert in seinen Aufsätzen, die unter „Wer wir waren“ von der versierten Kulturkritikerin Insa Wilke posthum zu einer Textsammlung zusammengetragen wurden, haarscharf den Zustand unserer Lebensumstände. Roger Willemsen entdeckt und formuliert bereits Jahre zuvor, dass wir heute zwar die Fakten begreifend, dennoch sehenden Auges in die Klimakatastrophe rutschen, ohne uns selbst dabei aufzuhalten. Dieser brillante Diagnostiker zeichnet das Bild einer durch und durch hedonistischen Gesellschaft. So viel geballte Wahrheit in anderthalb Stunden.



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