Bad Homburg (a.ber). Unbeschwert leichte, zornige, geheimnisvolle, wilde und schrille Töne: Was die fünf Streicher des HR-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Florin Iliescu mit der Auswahl ihrer Musikstücke musikalisch ausdrückten, findet sich in der Novelle „Brennendes Geheimnis“ von Stefan Zweig aus dem Jahr 1911. Die bekannte deutsche Schauspielerin Iris Berben trug die Geschichte im Rahmen des 13. Bad Homburger Poesie- und Literaturfestivals im Kurtheater vor.
Ein Reich der Zwischentöne, der Verwirrung, in das der zwölfjährige Edgar gerät, der beim gemeinsamen Urlaubs-Aufenthalt mit seiner Mutter im österreichischen Semmering miterlebt, wie sich diese in die Anfänge einer Affäre mit einem Baron verstrickt. Wahrheit und Lüge – zwei unvereinbare Ausdrucksformen der Seele? Oder zwei menschliche Züge, die sich mehr und mehr ineinander verschlingen, je weiter das Leben fortschreitet, je erwachsener man wird? Fast zwei Stunden lang las Iris Berben die spannende, psychologisch feinfühlige Schilderung des österreichischen Schriftstellers über ein Kind, das die ersten Schritte in die Welt der Erwachsenen tut. Das zahlreich erschienene Publikum war fasziniert.
Der im Hotel ankommende Baron, den die „gärende Ungeduld“ und der Wunsch nach einem arglosen Urlaubsflirt umtreiben und der „unfähig zur Einsamkeit“ ist, und sein „Opfer“, die Mutter eines Zwölfjährigen und Ehefrau eines Wiener Advokaten, „eine leicht üppige Dame“ der jüdischen Gesellschaft mit vornehmer Melancholie, scheinen die Protagonisten der Handlung zu sein – modulationsreich in der Stimme und mit „erzählenden“ Händen ließ die 71-jährige Schauspielerin, auf der Bühne an einem Tisch sitzend, die von Stefan Zweig geschilderten Figuren vor dem inneren Auge ihrer Zuhörer lebendig werden. Doch schnell wird deutlich, wer die Hauptfigur in der Novelle „Brennendes Geheimnis“ ist. Der 1881 in Wien geborene jüdische Schriftsteller Zweig, von dem damals dort tätigen Psychoanalytiker Sigmund Freud beeinflusst, richtet sein Augenmerk mit analytischem Gespür für die Nöte eines Kindes, das erstmals begreift, dass seine kindliche Welt und sein blindes Vertrauen in seine Mutter an Grenzen stößt, auf den Jungen Edgar. Der Baron und „die schöne Mama eines scheuen Knaben“, zwischen denen es zu knistern beginnt, sehen sich plötzlich einem Kind gegenüber, das den Funken des Erwachsenseins, des Ernstgenommen-Werdens durch den Baron, begeistert aufflammen lässt – und in der Enttäuschung, als lästiges drittes Rad am Wagen der sich anbahnenden Affäre nicht ernst genommen und von dem „Geheimnis“ ausgeschlossen zu werden, die Flammen in sich zu sprühendem Hass auf die beiden Erwachsenen schürt.
Iris Berben, seit 1967 als Film- und Fernsehschauspielerin bekannt und durch Charakterdarstellungen in Filmen wie „Schuld“ oder „Liebling Kreuzberg“, die sich seit Jahren unter anderem leidenschaftlich im Bereich Menschenrechte engagiert, füllte in der Lesung den großen Raum mit ihrer charakteristischen leicht rauen Stimme und ihrem unübersehbar leidenschaftlichen Minenspiel. Es hätte der großen farbigen Projektionen bekannter Gemälde von Gustav Klimt im Bühnenhintergrund gar nicht bedurft, um die spannungsreiche Dramatik von Zweigs Novelle zu illustrieren.
Die Dramatik eines Kindes, das erst „böse schweigender“ Mit-Intrigant wird und die Mutter dann mit der „Wahrheit“ konfrontiert und die in ihr „brennendes Geheimnis“ sehnsüchtig Verliebte damit in die Realität zurückholt; das erträgt und mitmischt, als das Geschehen in blanke Gewalt umschlägt; dem die Mutter später einen Entschuldigungsbrief an den wutentbrannt abgereisten Baron abzwingen will und das deshalb zu seinen Großeltern flieht – wo Edgar auf seinen Vater trifft, dem er das Geheimnis um die Affäre seiner Mutter dann doch nicht verrät. „Seit gestern hasste er seine Kindheit“: Edgar versucht, im Wechselspiel zwischen Wahrheit und Lüge den Kopf oben zu halten. Doch Erwachsene spielen auch, spielen anders, mitunter voller „wollüstiger Gefährlichkeit“, das erkennt der Junge schließlich fasziniert. Es war ein literarischer Abend, der vor Augen führte: Wahrheit und Lüge verschlingen sich im Laufe des Lebens. Das kann man wahrnehmen, am Ende vielleicht nicht ohne eine gewisse Barmherzigkeit, denn so erlauben beide uns zu irren, zu erkennen, uns zu entschuldigen, neu anzufangen und am Ende mit dem Muster unseres Lebens zurechtzukommen.