Über die Vielfalt von Wahrnehmung und Wirklichkeit

Der Oberurseler Fotograf Max Kling zeigt mit seiner Ausstellung in der Englischen Kirche, dass es angebracht ist, Wirklichkeit und Wahrnehmung als etwas wirklich Persönliches zu begreifen. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Da geht ein beleibter Mann mit Hosenträgern über dem T-Shirt und Tüte in der Hand auf den Eingang eines Kinos zu, während ein Radfahrer sich in die Szene schiebt und mit angespannter Miene seinem Ziel entgegenfährt. Ein Pärchen am Bürgersteigrand blickt vor dem Überqueren der Straße in Habacht-Stellung nach links. Zielstrebig läuft eine alte Frau mit Hut und Stock an einer gestrig aussehenden Häuserzeile entlang. Auf einem Bild kommt die Sonne durch das Fenster eines baufälligen Gebäudes und beleuchtet den leeren Stuhl, der im Bauschutt steht.

Das Ziel erreichen. Ankommen, einen Platz finden – aber wo? Im Licht oder im Schatten? Im Berührenden oder im Belanglosen? Im Kontrast oder im Gleichklang? In der Hässlichkeit oder in der Schönheit des Alltäglichen? Die Schwarz-Weiß-Fotografien von Max Kling, die derzeit in der Englischen Kirche am Ferdinandsplatz zu sehen sind, weisen keinen Platz zu. Sie geben keine gültige Antwort, wie Leben sei und wie die Sichtweise aufs Dasein. Denn Wahrnehmung und Wirklichkeit sind nicht eindeutig, sagt der in Oberursel lebende Fotograf, der mit seinem Fotoapparat bevorzugt in der Metropole Frankfurt am Main, aber auch anderswo unterwegs ist und seine Street Photography des urbanen Lebens bereits in Einzelausstellungen und Fotomagazinen im In- und Ausland präsentiert hat.

Max Kling fragte sich selbst und die Gäste bei der Vernissage seiner Ausstellung mit dem Titel „Alles ist wirklich – nichts ist wahr.“ in der Englischen Kirche: „Hat mein Foto die Wirklichkeit eingefangen? Und welche Wirklichkeit – meine eigene oder die des Betrachters?“ Einer sehe in einer Fotoszene „etwas super Ästhetisches“, der andere sehe darin Beängstigendes. Schon seine beiden Serien „We protect what we love“ – Wir schützen, was wir lieben – zeigen die Vielfalt von Wahrnehmung und Wirklichkeit: 42 kleinformatige Fotos präsentieren unser unentbehrliches geliebtes Alltags-Utensil, Autos und Motorräder, sorgfältig geschützt mit Abdeckplanen – denn was uns etwas wert ist, das bergen wir gerne; daneben hängen 66 Aufnahmen weggeworfener „Corona“-Masken, Mund- und Nasenbedeckungen in der Pfütze liegend und auf dem Gullideckel, vor dem Jägerzaun und in den Straßendreck getreten – wir haben damit geschützt, was wir lieben, uns selbst und andere in der Pandemie. Doch die Detailvielfalt der beiden immer gleichen Motive regen zum genauen Hinsehen an, etwas verschiebt sich vom Blick hin zur Frage: Heißt „to protect“ nicht auch verbergen, bewachen, abschirmen, isolieren? Und welches Licht fällt dann auf die Liebe und das, was wir lieben?

Der Fotograf, der, wie Stadträtin Nina Hoff-Kott in ihrer Begrüßung sagte, als studierter Betriebswirtschaftler über die Marketing-Arbeit zur kreativen Fotografie kam und 2016 durch einen New Yorker Fotografen zur Kunstform der spontanen Straßenfotografie, hat ein Auge für Situationen. Max Kling sammelt mit dem Objektiv Fundstücke des Lebens auf und lässt sie ihre eigenen Geschichten erzählen, die, so wünscht er es sich, bei jedem anders ankommen. Den Ballast der Farbe wirft er ab, reduziert Szenen auf Strukturen, Licht und Schatten. Brücken, Fassaden, Zäune, graffiti-verschmierte Backsteinmauern helfen dem Betrachter, Linien und Richtungen zu erkennen, die den Blick weiterführen. Ein kleines Mädchen in heller Sommerkleidung steht auf dem Dach einer Halle, unten im Schatten lauter Gäste der darin befindlichen Bar an Caféhaustischen sitzend. Perspektivwechsel: die Erwachsenen unten im Dunkeln, das Kind hoch oben im hellen Licht. Was hält uns, jederzeit über uns hinauszugehen, den Blick zu entgrenzen, die Schönheit im Normalen, ja im Abgewrackten zu entdecken und im Außergewöhnlichen auch mal das Banale und Kaputte? Ein Baumstamm in Nahaufnahme, neben dem ein neuer Schössling wächst und seinen Schatten auf den alten Stamm wirft, zeigt: Der Moment ist wirklich der Moment, eingefangen von Max Kling, aber er ist im Werden, hin zu „tausend unterschiedlichen Wahrnehmungen“.

!Die Ausstellung „Alles ist wirklich – nichts ist wahr.“ mit Schwarz-Weiß-Fotografien des Fotografen Max Kling im Kulturzentrum Englische Kirche, Ferdinandstraße 16 in Bad Homburg, ist bis 18. Dezember samstags und sonntags von 11 bis 14 Uhr geöffnet sowie jeweils eine Stunde vor Beginn von Veranstaltungen. Eintritt frei.



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