Stadtgeschichte gefällt auch im Regen

Da in Corona-Zeiten viele Kirchen, Museen und andere öffentliche Einrichtungen geschlossen sind, zeigt Gästeführer Helmut Schneider bei der Führung durch Friedrichsdorf Fotos aus den Innenräumen oder wie hier das Hugenottenkreuz, das in seiner Form dem Malteserkreuz entspricht und dessen Kennzeichen eine herabfliegende Taube ist, die den Heiligen Geist symbolisiert. Foto: fch

Friedrichsdorf (fch). Im wahrsten Sinn des Wortes in die Geschichte der Stadt Friedrichsdorf eingetaucht sind die zehn Teilnehmer des vergangenen öffentlich geführten Stadtspaziergangs mit Gästeführer Helmut Schneider. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet, doch die geschichtlich interessierten Bürger trotzten eineinhalb Stunden lang Regenschauern und herbstlich kühlem Wind.

Stadtgeschichte erfahren wollte die von Gästeführer Helmut Schneider geführte Gruppe, der unter anderem eine Neubürgerin angehörte, die enttäuscht darüber war, dass sie Anfang des Jahres bei der Anmeldung keine Infobroschüre zur Stadt und Geschichte ihres Wohnortes bekommen hatte. Ein anderer Bürger wohnt zwar schon seit zwei Jahrzehnten in der Stadt, hat aber zuvor nie Zeit gefunden, an einem Stadtspaziergang teilzunehmen. Er hat sich vorab ausführlich im Internet über Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und prominente, historische Persönlichkeiten der Stadt informiert. Auch zwei Oberurselerinnen mit Friedrichsdorfer Wurzeln hörten Helmut Schneider aufmerksam zu.

Hinweise auf den Gründer der Stadt liefert bereits ihr Name Friedrichsdorf, auf die der Bewohner die Bezeichnung Hugenottenstraße, die zuvor als Obergasse und „der Geißeberg“ (Ziegenberg) bekannt war. Helmut Schneider informierte die Gruppe über Hintergründe und wie es dazu kam, dass Friedrichsdorf zu einer der wichtigsten Kolonien französischer Glaubensflüchtlinge des 17. Jahrhunderts wurde. „1687 kamen die ersten Hugenotten in die Stadt.“ Diese waren der Einladung Landgraf Friedrich II. von Hessen-Homburg (1633 – 1708), auch bekannt als „der Prinz von Homburg“ oder der „Landgraf mit dem silbernen Bein“ gefolgt. Die aus Frankreich zu Fuß kommenden, reformierten Christen, Anhänger des Calvinismus, hofften in der Fremde ohne Verfolgungen und Einschränkungen ihren Glauben ausüben und ihrer Überzeugung nach leben zu können. In Frankreich waren die Protestanten schon lange von Klerus und katholischer Kirche unterdrückt. Ab 1661 begannen starke Verfolgungen, die unter Ludwig XIV. durch sein Edikt von Fontainebleau ab 1685 einen Höhepunkt erreichten und eine Fluchtwelle auslösten.

Ansiedlung mit Privilegien versüßt

Die sich in Friedrichsdorf ansiedelnden Hugenotten gehörten dem Mittelstand an, unter ihnen waren viele Handwerker. Versüßt hatte der Landgraf den Neubürgern ihre Ansiedlung mit der Gewährung zahlreicher Friedrichsdorfer Privilegien von 1687. Zu ihnen gehörte die freie Glaubensausübung, die Beibehaltung der französischen Sprache, die Überlassung von Grundstücken, dass sie sich ansiedeln konnten, wo sie wollten, aber auch zehnjährige Steuerfreiheit, und das Gesellen nicht auf Wanderschaft gehen mussten. Konflikte zwischen den vom Kurfürsten privilegierten Fremden mit der einheimischen Bevölkerung blieben nicht aus. 1771 bekam Friedrichsdorf seine Stadtrechte verliehen und 1821 sein eigenes Wappen. 1801 lebten 143 Familien hugenottischen Ursprungs in der Stadt. Unter ihnen 74 Flanell-, 27 Strumpf- und ein Leinweber. „Die Hugenotten brachten ihr Handwerk mit in die Region.“ Färberhäuschen in der Hugenottenstraße sind bis heute steinerne Zeugen einstiger Färbereien. Sie stellten zudem in Friedrichsdorf 30 000 Sockenpaare pro Jahr her bis die industrielle Revolution die Bürger zwang, auf neue Geschäftszweige umzustellen. Es wurden Hüte sowie Leder hergestellt und Zwieback gebacken. „In der Blüte gab es in der Stadt 15 Zwieback-Bäckereien.“ In Dosen verpackt wurden mit dem Friedrichsdorfer Zwieback die Kaiser in Berlin und Wien, der russische Zarenhof und die Stadt Konstantinopel beliefert. Emil Pauly erhielt den Titel „Hoflieferant seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit, des Kronprinzen“. Auf den von der Firma Emil Pauly in der Kurstadt Homburg befüllten Dosen stand als Herkunftshinweis „Bad Homburg bei Friedrichsdorf“. Die letzten Zwiebackfirmen in Friedrichsdorf waren die der Familien Pauly und Praum. Emil Pauly hatte seinen Firmenstandort auf dem Gelände des heutigen Taunus Carré. Er experimentierte mit Fertiggerichten und firmierte sein Unternehmen später in Milupa um.

Eine andere Erfolgsgeschichte ist die der in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsenen Flickschustertochter Marie Hensel, der späteren Madame Blanc. Ihr Werdegang hat märchenhafte Züge. Aus dem Dienstmädchen der Familie Blanc wird eine bekannte Geschäftsfrau und Spielbankbesitzerin.

Zu den renommierten Schulen der Stadt gehörte das 1849 gegründete Mädchenpensionat und ab 1836 die Lehr- und Erziehungsanstalt für Jungen von Louis Frédéric Garnier. Dort war der Erfinder Philipp Reis, erst Schüler und später Lehrer. Der erste 1860 durch sein Telefon gesprochene Satz lautete: „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat.“

Viele weitere Informationen gab es zur Geschichte der 1834 bis 1837 erbauten Friedrichsdorfer Kirche und des neuen Mormonentempels auf dem Gelände der einstigen Nudelfabrik Haller. Helmut Schneider bedankte sich bei den Teilnehmern, dass sie bis zum Schluss durchgehalten haben, obwohl alle komplett durchnässt waren.



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