Münster (ju) – Wenn man heute in der Eichendorffhalle in Kelkheim-Münster steht, die Fans auf den Rängen hört und die Spieler der TSG Münster in schnellen Angriffen den Ball nach vorne treiben sieht, ahnt man kaum, wie bescheiden alles begann. 100 Jahre Handball in Münster – das ist die Geschichte einer Sportart, die sich vom improvisierten Freizeitspiel zu einem Aushängeschild der Region entwickelt hat.
Tore aus Baumstämmen und Schuhe mit Nägeln
1925, zwei Jahre nachdem die Deutsche Turnerschaft Handball offiziell ins Leben gerufen hatte, fassten junge Turner aus Münster den Entschluss, es selbst zu probieren. Namen wie Georg Christmann, Christian Kunz, Josef und Hans Herr, Konrad Kilp oder Peter Josef Flick prägten die ersten Jahre.
Doch die Rahmenbedingungen waren alles andere als komfortabel:
• Der Sportplatz an der Lorsbacher Straße wurde mit Kohleschlacke aufgefüllt, die mühsam von der Kleinbahn aus Königstein herangeschafft wurde – ein Lkw stand damals nicht zur Verfügung.
• Die Tore bestanden aus gefällten Baumstämmen, Netze gab es keine. Gespielt wurde auf offene Tore.
• Umkleiden? Eine alte Holzhütte diente als Kabine.
• Trikots und Schuhe mussten selbst besorgt werden. Die ersten Hemden waren schwarz mit weißem Kragen, dazu schwarze Hosen. Alte Schuhe wurden kurzerhand mit Nägeln zu Stollenschuhen umgebaut.
• Für den ersten Handball wurde gesammelt, bis genug Geld zusammengekommen war.
Der Eintritt zu den Spielen betrug 30 Reichspfennig – ein stolzer Preis, wenn man bedenkt, dass der Stundenlohn damals bei 70 Reichspfennig lag. Die Ergebnisse auf dem Großfeld waren meist knapp: 1:0, 2:1, 1:1. Für die jungen Handballer zählte nicht das Spektakel, sondern das Miteinander, der sportliche Kampf und der Stolz, etwas Neues auf die Beine gestellt zu haben.
Stillstand im Krieg, Aufbruch nach 1945
Der Zweite Weltkrieg brachte den Spielbetrieb fast vollständig zum Erliegen. Nur eine Jugendmannschaft konnte noch aufrechterhalten werden. Doch schon kurz nach Kriegsende flammte die Begeisterung wieder auf.
Gespielt wurde zunächst wieder auf Großfeld, bald auch auf Kleinfeld. Und Münster entdeckte, dass Handball nicht nur sportlich, sondern auch gesellschaftlich verbinden kann: 1947 wurde der legendäre Handballer-Maskenball ins Leben gerufen. Über Jahrzehnte war er ein fester Termin im Kalender – fröhlich, ausgelassen und ein Symbol für den Zusammenhalt im Verein.
1948 folgte der erste Kreismeistertitel auf dem Kleinfeld, 1954 gelang der Aufstieg in die Bezirksklasse. Vor allem die Jugendarbeit wuchs, getragen vom Engagement vieler Ehrenamtlicher. Bis heute ist sie das Herzstück des Vereins.
Die 1970er: Festzelt, Maskenball und Kunststoffplatz
Als die Handballer 1975 ihr 50-jähriges Bestehen feierten, war das ein Fest, das vielen bis heute in Erinnerung geblieben ist. Auf dem Waldplateau wurde ein großes Zelt errichtet, Kommersabende und Turniere abgehalten. Höhepunkt war die Einweihung des neuen Kunststoffplatzes – ein Meilenstein für die Sportinfrastruktur.
Gleichzeitig entstand eine Mädchenmannschaft, ein wichtiger Schritt hin zu mehr Breite und Vielfalt im Verein. Handball war längst mehr als nur eine Abteilung – er war das sportliche Aushängeschild der TSG Münster.
Aufstieg und Bundesliga-Erfahrung
In den folgenden Jahrzehnten machte die erste Mannschaft sportlich auf sich aufmerksam. Mit großer Leidenschaft und viel Einsatz arbeitete man sich Schritt für Schritt nach oben. Der größte Coup gelang 2004/05: der Aufstieg in die 2. Bundesliga Süd.
Mehrere Jahre hielt sich Münster in der zweithöchsten deutschen Spielklasse, bevor der Abstieg kam. Doch der Verein ließ sich nicht entmutigen. Die Jahre in der 3. Liga und in der Oberliga Hessen waren nicht weniger intensiv – getragen von einem treuen Publikum, das die Heimspiele in der Eichendorffhalle regelmäßig in ein kleines Tollhaus verwandelte.
2023/24 folgte eine neue Erfolgsserie: Zunächst der Titel in der Oberliga Hessen, dann der Aufstieg in die Regionalliga, und 2025 schließlich die Rückkehr in die 3. Liga. Ein sportlicher Höhepunkt, der passgenau ins Jubiläumsjahr fällt.
Die Jugend als Fundament
Über die ganze Zeit hinweg blieb die Jugendarbeit der Motor des Vereins. Schon seit den 1950er-Jahren setzte Münster auf die Förderung von Talenten, mit großem Erfolg. Mehrfach erhielt die TSG das HBL-Zertifikat für exzellente Nachwuchsarbeit – eine Auszeichnung, die nur wenige Vereine in Deutschland tragen dürfen.
Viele Spieler aus den Jugendmannschaften fanden den Weg in die Bundesliga, manche sogar in Nationalmannschaften. Die Arbeit der Ehrenamtlichen, Trainerinnen und Trainer bildet bis heute das Fundament für alles, was Münster im Handball erreicht hat.
Anekdoten, die lebendig bleiben
• Improvisierte Anfänge: Wer heute auf perfekte Hallenböden schaut, mag kaum glauben, dass Münster einst auf Kohleschlacke spielte – mit Schuhen, in die man Nägel hämmerte.
• Der dreifache Kempa: Spektakuläre Spielzüge gehören seit jeher dazu. Für das Jubiläumsvideo rief die Abteilung jüngst alle Mitglieder auf, ihre schönsten Szenen einzuschicken – vom Kabinengesang bis zur artistischen Einlage.
• 50-Jahre-Maskenball 1975: Legendär waren die Feierlichkeiten im großen Zelt. Damals wurde der neue Kunststoffplatz eingeweiht – ein Symbol für Modernität und Aufbruch.
Heute und in die Zukunft
An der Spitze der Abteilung steht heute Stefan Dobhan, Trainer der ersten Mannschaft ist Daniel Wernig – selbst eine Vereinslegende, der einst als Spieler Rekorde in der 2. Bundesliga aufstellte.
Mit dem Aufstieg in die 3. Liga 2025 ist die TSG Münster sportlich zurück auf der großen Bühne. Doch das Jubiläum zeigt: Erfolg ist nicht allein das Maß aller Dinge. Es sind die Geschichten, die Menschen, die Erinnerungen – vom Baumstamm-Tor bis zum Bundesliga-Auftritt – die Handball in Münster zu etwas Besonderem machen.
Was bleibt, was kommt
100 Jahre Handball in Münster – das ist mehr als nur eine Zahl. Es ist die Geschichte von Menschen, die mit Leidenschaft, Mut und Gemeinschaftsgeist etwas geschaffen haben, das Generationen verbindet.
Von improvisierten Toren ohne Netz über ausgelassene Maskenbälle bis hin zu packenden Spielen in der 2. Bundesliga und dem aktuellen Drittligisten: Der Handball hat in Münster Wurzeln geschlagen – tief, fest und voller Leben.
Und wenn die Halle heute bebt, wenn Fans ihre Mannschaft nach vorne schreien, dann ist klar: Das Kapitel „100 Jahre Handball“ ist nicht das Ende – sondern ein neuer Anfang.
Ein für heutige Zeiten sehr amüsanter Auszug aus der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Handballabteilung:
„Die Belastung ist beim Hallen- und Kleinfeldhandball besonders hoch. Alle Spieler müssen fortwährend angreifen und verteidigen. Die oberen und unteren Extremitäten werden durch das Handballspiel gekräftigt. Schulter-, Arm- sowie Hand- und Fingermuskulatur entwickeln sich durch häufiges Werfen und Fangen. Es wird die Gewandtheit hervorragend verbessert. Die teilweise artistischen Leistungen im Hallenhandball – denkt man nur an die Sprungfallwürfe – erfordern ausgezeichnete Gewandtheit und eine gute athletische Grundausbildung des Spielers. Die Koordinationsfähigkeit wird vervollkommnet, weil eine Vielzahl technischer und taktischer Elemente des Handballspiels innerhalb kurzer Zeit in einer der Spielsituationen entsprechenden Folge geübt und erlernt werden. Jede Kombination läuft im Spiel unter anderen Bedingungen ab. Da die Bewegungen schnell und teilweise unter Bedrängung durch Gegner ausgeführt werden, müssen die Spieler kurzfristig zweckentsprechend reagieren. Das alles führt zu einer guten Ausbildung des Koordinationsvermögens und zur Verminderung der Reaktionszeit. Für die Entwicklung des Zentralnervensystems und der Motorik setzt das Handballtraining günstige und starke Reize. Die allgemeine Kräftigung des Organismus ist gleichzeitig eine gute Vorbeugung gegen Haltungsschwäche und Haltungsschäden. Eine gewisse Haltungsschulung wird durch das ständige Bücken und Aufrichten, durch das Drehen und Winden im Handballspiel erreicht; denn das kräftigt die Rückenmuskulatur.
Das Handballspiel kann gut zu Denken und Handeln beitragen. Im Spiel müssen persönliche Interessen und Wünsche denen der Mannschaft untergeordnet werden. Wenn gegen die Interessen der Mannschaft gehandelt wird, wird dies sofort für alle offensichtlich.
Wie jedes Sportspiel bietet auch das Handballspiel gute Voraussetzungen um zu Selbstständigkeit zu erziehen; denn jeder Spieler muß im Wettspiel schnell und selbstständig Entscheidungen entsprechend der jeweiligen Spielsituation treffen.“