Ein einzigartiges Zeitdokument – das Gästebuch des Rettershofs kehrt heim Zwei Gäste, zwei Geschichten

Stadtarchivar Julian Wirth (li.), begleitet vom Kelkheimer Bürgermeister Albrecht Kündiger (2. von li.), übergibt Rachel Monsarrat (Mitte) das Original-Gästebuch. Der Erste Stadtrat Dirk Hofmann (2. von re.) blättert beeindruckt im Faksimile. Alexander Furtwängler (re.), Geschäftsführer der Rettershof und Stadthallen GmbH, hält ein Buch in den Händen, das Monsarrat im Eigenverlag für ihre Familie herausbrachte – mit dem Briefverkehr ihrer Urgroßmutter als Inhalt.Foto: Judith Ulbricht

Kelkheim (ju) – Wenn alte Zeiten flüstern, dann manchmal durch vergilbtes Papier, feine Tinte und elegante Handschriften. Seit März 2024 tut genau das ein ganz besonderes Buch in Kelkheim – es erzählt von Tee mit Prinzessinnen, Spaziergängen mit Königen und Sommern voller Eleganz. Das historische Gästebuch des Rettershofs, eines Anwesens mit märchenhafter Kulisse und großer Vergangenheit, ist nicht nur ein Fenster in die Belle Époque – es ist ein echtes Unikat. Und es ist endlich wieder dort, wo es hingehört.

Rückkehr eines verborgenen Schatzes

Es war keine Historikerin, keine Archivarin, sondern eine Enkelin, die den Zauber zurückbrachte. Rachel Monsarrat, eine charmante ältere Dame mit britischem Akzent und südfranzösischer Adresse, entdeckte das Gästebuch ihrer Großmutter Hedwig Forde von Dieskau – Tochter von Alice von Dieskau, der Bauherrin des Rettershofs – auf einem staubigen Dachboden in London. Auf dem Weg zu ihrem Sohn in Nordrhein-Westfalen besuchte sie den Rettershof, Ort ihrer Ahnen. Was sie im Gepäck hatte, war nichts Geringeres als ein Zeitzeugnis von europäischem Rang. „It was fascinating, amazing“, beschreibt Monsarrat ihre ersten Eindrücke, die sie vom Rettershof bekam. Die alte Treppe, der Kamin im Foyer – Relikte einer anderen Zeit.

Man kann sich gut vorstellen, wie Rachel Monsarrat den Kiesweg zum Rettershof entlangschritt – vielleicht mit einem Gefühl zwischen Ehrfurcht und innerer Aufruhr. Der Ort, den sie nur aus alten Briefen, verblassten Fotografien und den kunstvollen Einträgen im Gästebuch kannte, stand nun in voller Pracht vor ihr. Vielleicht hat sie kurz den Atem angehalten, als sie zum ersten Mal das Tudorschlösschen sah – das Haus, das ihre Urgroßmutter einst bauen ließ, das ihr durch Erzählungen fast mythisch erschien.

Hier war Geschichte plötzlich nicht mehr fern und abstrakt, sondern greifbar. Jeder Stein, jeder Fensterbogen flüsterte vom Leben ihrer Vorfahren. In diesem Moment muss sie sich gefühlt haben, als würde sie nach Hause kommen – an einen Ort, an dem sie nie zuvor war, der aber doch in ihrer Erinnerung lebte. Ein stilles Staunen, vielleicht auch ein Kloß im Hals. Und die Ahnung: dass sie nicht nur etwas mitgebracht hatte, sondern auch etwas gefunden.

Einblicke in das Gästebuch

Zwischen 1886 und 1915 blättert man sich durch eine Gesellschaft, die sonst nur in Geschichtsbüchern erscheint. Da ist etwa der Eintrag vom 1. September 1890, mit dem sich Edward VII., der spätere König des Vereinigten Königreichs und Kaiser von Indien, verewigte. Auch seine Mutter, Victoria von Großbritannien und Irland, besuchte mehrmals mit ihrer Entourage den Rettershof. Eine ihrer Eintragungen zitiert ein arabisches Sprichwort, das bis heute Gänsehaut verursacht: „Dieu voit la fourmi noire qui marche sur le marbre noir.“ (Gott sieht die schwarze Ameise, die über schwarzen Marmor geht.)

Nicht nur der Hochadel, auch Persönlichkeiten aus Militär, Diplomatie und Wirtschaft gaben sich die Klinke in die Hand. So finden wir Verse wie diesen, von einem hessischen Offizier in Reimform verfasst:

„In Rettershofs Gemäuern fein,

lebt ein Wirth, so soll es sein.

Drum kämpft’ ich heut mit Löwenmuth,

für dieses Hauses Hab und Gut. –

Preuhs, Seconde-Lieutenant, 1. Hessisches Infanterie-Regiment Nr. 81“

Ein weiteres charmantes Zitat stammt von Adelheid, die am 12. Mai 1888 schrieb:

„Das Scheiden macht viel Herzeleid,

bescheinigt hiermit Adelheid.“

Vom Original zum Faksimile

Ein solches Buch darf nicht nur in einer Vitrine verschwinden. Um die Geschichten und Stimmen zu bewahren und der Forschung wie auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde das Gästebuch aufwändig digitalisiert und nach modernsten Standards reproduziert, wie Stadtarchivar Julian Wirth beim Pressetermin im Schlosshotel stolz berichtete.

Den Auftrag übernahm die renommierte LUP AG aus Rösrath bei Köln – ein Unternehmen, das normalerweise für Einrichtungen wie das Stadtarchiv Köln, das Museum Folkwang oder den WDR arbeitet. Der Weg zum Faksimile war komplex und von höchster Handwerkskunst geprägt:

• Restaurierung: Zunächst wurde das Buch in einer zwei Monate dauernden Prozedur von der erfahrenen Restauratorin Martina Noehles (Mühlheim am Main) konserviert – sie war bereits für die Restaurierung des Kelkheimer Gerichtsbuchs verantwortlich. Jede Seite wurde vorsichtig gereinigt und stabilisiert.

• Scanprozess: Anschließend nahm sich die LUP AG das Buch vor. Der komplette Scan erfolgte mit spezieller Hochtechnologie, die jede feine Nuance der alten Tinte und des vergilbten Papiers einfängt.

• Manuelle Alterung: Damit das Faksimile nicht wie eine bloße Kopie wirkt, sondern wie das Original, wurde jede Seite in Handarbeit künstlich gealtert – so behält das Duplikat die Aura der Zeit.

• Dauer: Insgesamt dauerte die Herstellung des Faksimiles drei Monate – eine handwerklich und technisch höchst anspruchsvolle Arbeit, die das Gästebuch zu einem lebendigen Artefakt macht.

Das Ergebnis ist ein nahezu identisches Replikat des Originals, das bald im Schloss Rettershof oder im Museum ausgestellt werden soll. Julian Wirth freut sich schon auf Ausstellungen und Führungen rund um das wertvolle Relikt. Auch ein hochauflösendes Digitalisat wird über die städtische Homepage zur Verfügung stehen – ein Geschenk an Historiker, Ahnenforscher und Neugierige. Das Original gab Wirth wieder in die Hände seiner Besitzerin, der es eine Ehre war, der Stadt das Gästebuch zur Verfügung zu stellen.

Ein Stück Kelkheimer Identität

Dieses Gästebuch ist mehr als ein historisches Dokument. Es ist ein Zeugnis davon, dass Kelkheim einst ein Ort war, an dem Weltgeschichte auf ländliche Idylle traf. Der Rettershof war nie nur ein Schloss, sondern ein Begegnungsort – für Persönlichkeiten, Ideen und Gefühle.

Und auch wenn heute keine Königin mehr durch die Gänge schreitet – durch die Tinte vergangener Gäste ist ihre Anwesenheit noch spürbar. In jedem Vers, jeder Widmung, jedem Namen lebt ein Stück europäische Geschichte fort. Und nun – wieder in Kelkheim.

Das Gästebuch des Rettershofs ist ein Kelkheimer Kulturgut – kostbar, poetisch, lebendig. Es erzählt nicht nur Geschichte, sondern weckt Emotionen. Und es zeigt: Heimat entsteht manchmal durch Rückkehr – selbst, wenn es 100 Jahre dauert. Und die Geschichte des Rettershofs – sie ist noch lange nicht zu Ende erzählt.

Ein Blick in das Gästebuch

Foto: Alexander Furtwängler

• Diego von Bergen, deutscher Diplomat, der später über zwei Jahrzehnte Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom war, schrieb sich als junger Mann ein – ein früher Vorbote seiner Karriere im Dienste der Reichsdiplomatie.

• Feodora Prinzessin von Sachsen-Meiningen war 1894 zu Gast – Jahre später nahm sie sich das Leben. Ihr Eintrag wirkt mit diesem Wissen heute besonders berührend, als letzter Gruß einer Seele, die einst Freude an diesem Ort fand.

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