Kelkheim (ju) – Der Zufall, ein unberechenbarer Spielgefährte des Lebens, ist wie ein Windhauch, der unerwartet durch die Tür weht und das Alltägliche durcheinanderwirbelt. Er lässt uns an Kreuzungen verweilen, die wir nie gesucht haben, und führt uns auf Wege, die jenseits unserer Pläne liegen. Manchmal ein flüchtiges Lächeln, manchmal ein stiller Beobachter, zeigt er uns die Schönheit in der Unvorhersehbarkeit. In seinem Chaos verbirgt sich eine Ordnung, die wir erst erkennen, wenn wir rückblickend die Verbindungslinien ziehen. So umarmen wir den Zufall, lassen uns von ihm überraschen und erkennen in seinen zufälligen Begegnungen die Möglichkeiten des Lebens.
Der Zufall steht plötzlich im Schloss
Unsere Geschichte, die wir eben jenem Zufall zu verdanken haben, beginnt im März dieses Jahres. Der Direktor des Schlosshotel Retters, Alexander Flamme, saß gerade mit Martin Stephan, Mitarbeiter des Bauamtes und für den Komplex Rettershof zuständig, zusammen, um über einige bauliche Maßnahmen zu sprechen. Da erschien ein Mitarbeiter mit einer älteren Dame im „Schlepptau“. Diese stellte sich als Rachel Monsarrat vor, Urenkelin von Alice von Dieskau – eben diese Dieskau, für die im Jahre 1885 das Schlösschen im Tudorstil errichtet worden war. In ihren Händen hielt sie ein Buch und Flamme und Stephan staunten nicht schlecht, als sie erkannten, was es war: Ein Gästebuch, das eindrucksvoll belegt, wer zur Zeit von Kaiser Wilhelm II auf dem Rettershof weilte.
Die heute in Südfrankreich lebende Engländerin Monsarrat war auf der Durchreise zu ihrem in Wuppertal lebenden Sohn und betrat das Anwesen in diesem März zum ersten Mal. Auf ihrer sehr persönlichen Spurensuche wollte sie auch unbedingt den Rettershof in Augenschein nehmen und hatte eben den historisch außerordentlich wertvollen Schatz mit im Gepäck: Das Gästebuch aus der Hinterlassenschaft ihrer Großmutter, Hedwig Forde von Dieskau, Tochter der berühmten Alice. Es war ihr in London auf dem Dachboden ihres Cousins in die Hände gefallen und bestärkte sie darin, sich auf die Spuren ihrer Ahnen zu begeben. Das mittlerweile fragile Buch verzeichnet Eintragungen der Besucherinnen und Besucher des Hauses zwischen 1886 und 1915. Flamme erkannte die Bedeutung und fotografierte mit Erlaubnis Rachel Monsarrats einige Seiten, ehe die Engländerin aufbrechen musste.
Geschichtliche Relevanz
Alexander Furtwängler, Geschäftsführer der Gutsverwaltung Rettershof GmbH wurde über diese Begegnung informiert, schaute sich die Fotos an. „Mir war klar, dass da gerade etwas Beeindruckendes passiert und ich habe Bürgermeister Albrecht Kündiger, den Kulturdezernenten und Ersten Stadtrat Dirk Hofmann sowie natürlich Stadtarchivar und Historiker Julian Wirth darüber in Kenntnis gesetzt“, erinnert sich Furtwängler. Bald stand fest, dass es sich bei dem Gästebuch nicht nur um ein für Monsarrats Familie besonderes Dokument handelt. Vielmehr ist das Buch eine bedeutende Quelle für die Stadt Kelkheim und von weit darüber hinausreichender geschichtlicher Relevanz. Da schlägt das Herz eines jeden Stadtarchivars höher. Der Kontakt zu der 85-jährigen Monsarrat war schnell hergestellt, ein reger Austausch per Mail und Telefon begann, bis im April Rachel Monsarrat einer gemeinschaftlichen Einladung auf den Rettershof folgte. „Sie hatte natürlich das Gästebuch wieder dabei und so hatte ich mehrere Tage Zeit, darin rumzublättern“, schwärmt Julian Wirth noch heute. Dabei analysierte er namentliche Eintragungen von Besucherinnen und Besuchern des deutschen und englischen Adels sowie des Großbürgertums. „Ich habe das Buch gemeinsam mit Rachel Monsarrat durchgearbeitet, das war für sie sicherlich eine sehr intime Geschichte, ist sie doch ein Teil ihrer Geschichte. Für mich stand der regionale Aspekt im Vordergrund und wir haben viel über die damalige Zeit erfahren können. Die Sammlung enthält sogar zahlreiche aufschlussreiche Anekdoten in deutscher, englischer und französischer Sprache“, zeigte sich Wirth fasziniert. „Es sind Puzzlestücke deutscher und europäischer Geschichte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.“
Seitenweise Hoheiten
Prominenteste Besucherin des Haus Retters war sicherlich Victoria von Großbritannien und Irland. Sie signierte im Gästebuch unter dem Namen „Victoria, Kaiserin und Königin Friedrich“, den sie sich selbst aus Liebe zu ihrem 1888 verstorbenen Ehemann, Kaiser Friedrich III., gab. Kaiserin Friedrich war die Mutter Wilhelms II., des letzten Deutschen Kaisers. Ihre Mutter wiederum war die berühmte Queen Victoria von England, nach der ein ganzes Zeitalter benannt ist: der Viktorianismus.
Neben Kaiserin Friedrich verewigten sich noch weitere Vertreterinnen und Vertreter des europäischen Spitzenadels im Gästebuch. So etwa die Prinzessinnen Louise und Victorie von Schleswig-Holstein, die Erbprinzessin Charlotte von Preußen, Mitglieder der Familien von Reus, von Bethmann, von Hindenburg, von Schaumburg-Lippe und viele andere. Aber auch in Kelkheim bekannte Namen wie Reinach und Cohausen finden sich darin.
Historischer Hintergrund
Der Taunus war insbesondere nach der Reichsgründung 1871 ein Hotspot der High Society Deutschlands und Englands. Aus dieser Zeit stammen zahlreiche opulente Villen und Landhäuser. Bei der Entstehung und Verdichtung dieser Villenlandschaft spielte Schloss Friedrichshof in Kronberg, der Witwensitz der Kaiserin Friedrich, eine zentrale Rolle. Jenes Landhaus im englischen Stil war ein Anziehungspunkt für die vornehme europäische Gesellschaft.
Der Rettershof und die Familie von Dieskau waren Teil dieser „Upperclass“ im Taunus. Das Gästebuch von Rachel Monsarrat liefert eindeutige Belege hierfür. Die Großmutter Monsarrats, Hedwig von Dieskau, akzentuierte diese Aura auf der ersten Buchseite so: „A guestbook, mentioning many friends, among them some of the highest and most famous personalities in Europe.“ (Übersetzt: Ein Gästebuch, das viele Freunde erwähnt, darunter einige der höchstgestellten und berühmtesten Persönlichkeiten Europas.) Hedwig von Dieskau war später eine sogenannte Lady in Waiting, eine Hofdame der Prinzessin Charlotte von Preußen.
Ein Schatz für die Stadt
Im Rathaus ist man begeistert. Dirk Hofmann ist überzeugt: „Dieses Gästebuch ist ein Schatz für Kelkheim. Die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung unserer Stadt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erscheint in einem neuen Licht.“
„Bisher konnte nur ein Bruchteil des Inhalts ausgewertet werden“, sagt Alexander Furtwängler. „Wir sind sehr zuversichtlich, dass uns Rachel Monsarrat und ihre Familie gestatten werden, ein Faksimile des Gästebuches anfertigen zu lassen. Das können wir dann der Öffentlichkeit zugänglich machen.“ Es gebe da auch schon halbwegs eine Absprache mit der Engländerin, weiß Julian Wirth zu berichten. Im Gegenzug werde man das Gästebuch etwas aufrestaurieren lassen. „Grundsätzlich wäre auch zu überlegen, ob wir nicht zwei Faksimiles anfertigen lassen, dann könnte eins im Rettershof ausgestellt werden, denn bei den Gästen und Besuchern taucht häufig die Frage nach der historischen Einordnung auf“, weiß der Stadtarchivar. Bürgermeister Albrecht Kündiger kann sein Glück immer noch nicht so ganz fassen: „Wir sind sehr glücklich, dass Rachel Monsarrat den Weg nach Kelkheim gefunden hat. Damit hat sie gewissermaßen die Geschichte ihrer Urgroßmutter Alice von Dieskau fortgeschrieben. Der Rettershof ist ein Juwel unserer Stadt. Nach diesen Entdeckungen glänzt es noch facettenreicher als bisher vermutet.“