Leserbrief Schule als Wunschkonzert?

Sehr geehrte Frau Ulbricht,

ich schätze Sie wirklich sehr, doch ich fürchte, mit dem letzten Kommentar in der Kelkheimer Zeitung sind Sie ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.

So einfach wie Sie sich das vorstellen, funktioniert Schule leider nicht. Irritiert hat mich, dass Sie einerseits fordern, dass Lehrer sich als „Dienstleister“ zu verstehen hätten, andererseits kritisieren Sie Lehrer, die ihre Arbeit als „Dienst nach Vorschrift“ absolvieren.

Ein Problem sehe ich darin, dass viele Eltern der Meinung sind, sie könnten den Beruf als Lehrer besser oder genauso gut ausüben. Schließlich kennen sie ja ihr Kind und wissen um dessen Bedürfnisse. Auch das Internet gibt genug Ratschläge, was die Lehrer schließlich zu leisten hätten. Und zur Befriedigung der Bedürfnisse aller Eltern und Kinder seien die Lehrer ja schließlich da. Auch wer die Schuld trägt, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden, wissen wir alle. Es sind die Lehrer, die gefälligst ihre Aufgabe als „Dienstleister“ für frustrierte und überforderte Eltern und Schüler zu erfüllen haben und dafür Sorge zu tragen hätten, dass die Schüler gute Leistungen erbringen. Doch viele unterschiedliche Eltern und Schüler haben auch viele unterschiedliche Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen. Wie kann man alle gleichzeitig erfüllen?

Ob Schüler besser im Frontalunterricht oder in Partner- oder Gruppenarbeit unterrichtet werden, ob manche Lerninhalte fächerübergreifend behandelt werden können oder sollen, können Sie getrost den Lehrern überlassen. Manche Lerninhalte und Bedingungen erfordern mal das eine, mal das andere. Schließlich gehört die Didaktik als Wissenschaft vom Lehren und Lernen zum Handwerkszeug der Unterrichtenden. Auch wenn hin und wieder ein Gedicht auswendig gelernt werden soll oder auf eine gut leserliche Schrift geachtet wird, hat dies seine Berechtigung.

Es ist schön für Sie und Ihre Tochter, dass Sie sich den Luxus leisten können, eine bestimmt gute Privatschule besuchen zu können. Kleine Klassen, viel Zeit für Gespräche zwischen Lehrern, Schülern und Eltern, eingehen auf die individuellen Stärken der Schüler und Wünsche der Eltern, Unterricht mit den neuesten digitalen Medien …

Glauben Sie mir, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, ist der Wunsch der meisten Lehrer.

Erlauben Sie mir die Frage: Wie viele Kinder besuchen denn die Klasse Ihrer Tochter, die nicht nur Teilleistungsschwächen haben, sondern integrativ und inklusiv beschult werden müssen? Haben Sie schon einmal an einem Unterricht teilgenommen mit 99 % Migrationshintergrund ? Dafür müssen Sie gar nicht bis nach Berlin!

Die Realität in unseren staatlichen Schulen sieht anders aus: veraltete Gebäude, unzumutbare sanitäre Anlagen, oft nur kaltes fließendes Wasser, immer größere Klassen, Schüler mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen aus sehr unterschiedlichen Elternhäusern und sozialem Umfeld …

Gleichzeitig werden die Ansprüche an Lehrer immer größer: optimale individuelle Betreuung, optimale Digitalisierung, unterschiedliche hohe Erwartungen der Eltern, die oftmals mit der Erziehung ihrer Kinder völlig überfordert sind und diese lieber den Lehrern überlassen. Hoher und immer höher werdender Ausländeranteil, Kinder mit traumatisierten Erfahrungen und großen Lern- und Sprachschwierigkeiten, unterschiedlichem Lerntempo, unterschiedlicher Lernbereitschaft, sehr unterschiedlichen Ausgangslagen …

Doch: Die Lehrer sind keine Computer, die sofort auf alle Eventualitäten programmiert werden können und auch die Differenzierung gerät an ihre Grenzen!

Sie schreiben, Sie hätten gern „ein Schulsystem, in dem jeder Schüler die gleichen Chancen hat“. Ein Traum - ein schöner Traum! Wie soll eine Schülerin aus einer geflüchteten afghanischen Familie, die zu siebt in einer Zweizimmerwohnung in einem sozialen Brennpunkt lebt, die gleichen Chancen haben wie Ihre Tochter, die eine Privatschule besuchen kann?

Alle Lehrer über einen Kamm zu scheren ist keine gute Einstellung! Ja, wie in jedem Berufsfeld gibt es auch hier schwarze Schafe oder Lehrer, die zu spät bemerkt haben, den Beruf verfehlt zu haben. Neben dem Fachwissen erfordert der Beruf eine starke Persönlichkeit und ein natürliches Pädagogik- und Lehrgeschick. Doch die meisten meiner Kollegen geben ihr Bestes, machen nicht nur „Dienst nach Vorschrift“, sondern erfüllen ihren Beruf aus Leidenschaft zum Lehren und Erziehen und mit viel Empathie und Liebe zu ihren Schützlingen.

Aber, wie mittlerweile allseits bekannt, ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Ihre vielen ausgeführten Wünsche in allen Ehren, liebe Frau Ulbricht. Viele Lehrer haben ähnliche Wünsche wie Sie. Leider müssen sie erkennen, dass zwischen den Berufsvorstellungen, den Wünschen und Träumen, eine große Kluft besteht zur Realität. Eine Kluft, die leider immer größer zu werden droht.

Eine Kluft, die nicht in unmittelbarer Zukunft verkleinert werden kann. Vieles sollte und müsste im derzeitigen Schulsystem verbessert werden, da gebe ich Ihnen recht. Doch die Ausgangslage und die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse tragen dazu gerade nicht im Positiven bei.

Vielleicht würde es helfen, der Lehrerschaft ein wenig mehr Verständnis und Wertschätzung entgegenzubringen. Vielleicht würde dies auch dazu beitragen, den Beruf wieder attraktiver für junge Kolleginnen und Kollegen zu machen, um zumindest dem großen Lehrermangel etwas entgegenzutreten.

Ihre Wünsche in allen Ehren, doch Schule im staatlichen Bereich ist kein Wunschkonzert, weder für Eltern noch für Schüler, noch für Lehrer! Schule ist eine Stätte, um den unterschiedlichen Bedürfnissen und Bedingungen möglichst aller Schüler gerecht zu werden und ihnen gleichzeitig ein solides Wissensfundament sowie eine empathiefähige soziale Kompetenz für das Leben zu geben. Ob mit oder ohne Noten als Vergleichsinstrument, ob mit Frontalunterricht oder Gruppenarbeit, ob mit oder ohne modernste Medien und Digitalisierung.

Liebe Frau Ulbricht, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber Ihre Meinung deckt sich leider mit der Meinung vieler Eltern. Daher ist es mir wichtig, einmal über die andere Seite zu informieren.

Birgit Gröger (Lehrerin, Autorin),

Kelkheim



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