Kelkheim (ju) – Ein altes Fabrikgelände, ein geheimer Treffpunkt, eine Bande, die nur Mutige aufnimmt – die Welt der Vorstadtkrokodile ist voller Abenteuer, Zusammenhalt und Freundschaft. „Nur wer Mut hat, darf bei den Krokodilen mitmachen“, liest eines der Kinder laut vor, und für einen Augenblick wird es still im Klassenzimmer. Manche kichern, andere nicken ernst. Denn Mut braucht es auch in ihrem eigenen Leben: Mut, eine neue Sprache zu lernen, sich in einer unbekannten Umgebung zurechtzufinden und trotz mancher Hürden den eigenen Weg zu gehen.
„Banden-Geist“
Genau dafür bot das Sprachcamp der Eichendorffschule in den letzten beiden Ferienwochen den passenden Rahmen. Rund zwei Wochen lang tauchten die Kinder – viele von ihnen mit Fluchtgeschichte – in die Abenteuer von Hannes, Maria und Kurt ein. Das gemeinsame Lesen wurde dabei mehr als nur Sprachübung: Es eröffnete Gesprächsanlässe, ließ neue Wörter lebendig werden und schuf einen Raum, in dem sich die Kinder ausprobieren und ausdrücken konnten. Zwischen Vokabelkarten, Erzählrunden und Lachen entstand ein kleiner „Banden-Geist“ wie bei den Vorstadtkrokodilen: das Gefühl, gemeinsam stärker zu sein.
Doch nicht alle Kinder konnten oder wollten an diesem Tag, an dem Pressevertreter und Unterstützer einen Einblick in die Arbeit des Camps erhielten, dabei sein. Besonders die neu angekommenen Kinder und Jugendlichen aus Gaza und dem Iran blieben fern. „Ihre Ängste sind noch groß, zu groß, um sich den neugierigen Blicken fremder Menschen zu stellen“, weiß Lehrerin Ina Schindler, die das Camp seit Jahren organisiert und betreut. Einige von ihnen sind noch Analphabeten – eine doppelte Last, die den Weg in ein neues Leben zusätzlich erschwert.
Erschütternde Fluchtgeschichten
Hinter den lachenden Gesichtern liegen oft Geschichten, die schwer zu ertragen sind. Viele der Kinder sind über das Meer geflüchtet, haben Gewalt, Verlust oder Angst um ihr Leben erlebt. Manchmal erzählen sie davon – ganz nebenbei, zwischen einer Leseübung oder einer Malstunde. Dann blitzen Bilder auf von überfüllten Booten, von Nächten voller Furcht oder von Abschieden, die keine Wiederkehr kannten. Für Ina Schindler und die Kunstpädagogin Julia Vogel sind solche Momente bewegend und belastend zugleich. Sie hören zu, sie geben Halt, und doch bleibt die Ohnmacht, dass kein pädagogisches Konzept die erlebten Traumata einfach auflösen kann. „Manches geht uns sehr nah“, sagt Ina Schindler – und meint damit nicht nur die Kinder, sondern auch das eigene Herz, das mitleidet. „Wenn es sehr akut ist, setzen wir unser Netzwerk in Bewegung und holen Hilfe für die Schüler, aber nicht nur für sie – auch wir achten auf uns. Wenden uns an die entsprechenden Stellen, wenn das Gehörte unsere Grenzen übersteigt“, so Schindler
Ein sicherer Ort
Gerade deshalb ist das Sprachcamp mehr als ein Lernprojekt. Es ist ein sicherer Ort. Ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche erleben dürfen: Hier bin ich willkommen, hier darf ich Kind sein, spielen, lachen und meine Stimme erheben. Sprache wird hier zur Brücke, aber auch zum Anker – eine Möglichkeit, Erlebtes zu benennen, neue Perspektiven zu entwickeln und in kleinen Schritten Vertrauen zurückzugewinnen.
Sprache spielt eine zentrale Rolle bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Sie ist Schlüssel und Türöffner zugleich: Grundlage für Bildungserfolg, gesellschaftliche Teilhabe und berufliche Chancen. Gute Sprachkenntnisse geben Sicherheit im Alltag, ermöglichen neue Freundschaften und schenken Mut, in einer neuen Heimat Fuß zu fassen.
Intensiv Deutsch lernen
Dessen sind sich auch die Schulleitung und die Lehrkräfte der Eichendorffschule bewusst. Darum organisiert die Schule jedes Jahr das Sprachcamp. „Sechs Wochen nur zu Hause in der Muttersprache sprechen ist schlecht für den deutschen Spracherwerb“, erklärt Schulleiter Stefan Haid, der beim diesjährigen – mittlerweile neunten – Sprachcamp Einblicke gab. Gerade für Schülerinnen und Schüler, die erst beginnen, Deutsch zu lernen, können Ferienzeiten zum Rückschritt führen. Hier setzt das Camp an: zwei Wochen nur Deutsch – bewusst, intensiv und voller Begegnungen.
Sprache und Kunst
Herz und Motor des Projekts ist Lehrerin Ina Schindler, die das Sprachcamp seit Jahren begleitet und prägt. Mit Empathie, Geduld und Kreativität gelingt es ihr, Kinder nicht nur sprachlich, sondern auch menschlich mitzunehmen. Unterstützt von Julia Vogel, die über die Kunst auch andere Ausdruckswege öffnet, schafft sie Räume, in denen Sprache, Bilder und Erlebnisse ineinandergreifen. Gemeinsam gaben sie den Kids einen künstlerischen Zugang: In kleinen Teams entstanden Brettspiele nach dem Vorbild der Vorstadtkrokodile. Monopoly und das weltbekannte Mensch-ärgere-dich-nicht wurden umgestaltet – mit „Krokodil-Dollars“, eigenen Spielfeldern und Figuren, die im 3D-Drucker entstanden und von den Kindern und Jugendlichen bunt bemalt wurden. Ein Stück Sprache und Fantasie wurde so sichtbar und greifbar, und die Kinder konnten spielerisch zeigen, wie viel Kreativität in ihnen steckt. „Dabei stießen wir in diesem Jahr wie immer auf neue Herausforderungen – und zugleich auf bereichernde Erfahrungen, die einmal mehr zeigen: Sprachförderung ist weit mehr als Unterricht. Sie ist eine Brücke in ein selbstbestimmtes Leben“, fasst es Julia Vogel in gefühlvolle Worte.
Förderer und Unterstützer
Möglich ist dieses besondere Projekt nur dank zahlreicher Unterstützer. Jahr für Jahr tragen Förderer, Stiftungen und Partner dazu bei, dass das Sprachcamp stattfinden kann. So überzeugten sich in diesem Sommer Hans-Theo Buetscheidt von der Stiftung „Kinderlachen“ der Taunus Sparkasse, Staatssekretär Dr. Manuel Lösel, Schuldezernent Axel Fink, Petra Bliedtner, Leiterin des Amts für Soziales und Integration, sowie Peter Sothmann, Präsident des Rotary Clubs Kelkheim, persönlich von der Sinnhaftigkeit des Camps. „Das Sprachcamp ist inzwischen weit über den Main-Taunus-Kreis hinaus bekannt. Es beeindruckt mich jedes Jahr aufs Neue, was hier geleistet wird“, betonte Axel Fink anerkennend. Auch die anderen Gäste zeigten sich tief beeindruckt von der Atmosphäre, der Offenheit und der Energie, die in den Räumen der Eichendorffschule spürbar war.
Sprache bedeutet Teilhabe
Das Sprachcamp zeigte eindrucksvoll, wie wichtig es ist, Kindern mit schwierigen Startbedingungen Chancen zu eröffnen. Sprache bedeutet Teilhabe – in der Schule, im Alltag, in der neuen Heimat. Hier wurde deutlich: Wenn Kinder sich ernstgenommen fühlen, wenn sie lernen, ihre Gedanken auszudrücken, wächst nicht nur ihr Wortschatz, sondern auch ihr Selbstvertrauen. So wurden die letzten beiden Ferienwochen zu einer besonderen Reise – hinein in eine Geschichte voller Abenteuer und hinaus in die eigene Zukunft, die mit Mut, Sprache und Gemeinschaft gestaltet werden kann.