Schneidhain (hhf) – Moderator Reinhold Siegberg hatte Glück, dass ihm sein Platz hinter dem Mikrofon reserviert blieb, denn im großen Saal des evangelischen Gemeindehauses am Hohlberg wurde es eng. Bis auf die Tische hinter den Stuhlreihen dehnte sich die Menge an Zuhörern aus, die Dr. Henning Scherf im ersten Vortrag des neuen Jahres im Offenen Treff für jedermann erleben wollten. Zum Auftakt der Reihe, die sich in diesem Jahr dem Alter widmet, einer laut Siegberg durchaus „spannenden Lage“ aus demografischer Sicht, hatte man einen Redner mit unschlagbaren Qualitäten gewinnen können, denn er stellte nicht nur die Idee einer Alters-Wohngemeinschaft vor, sondern wohnt auch dort.
Mittlerweile 76 Jahre alt, ist Henning Scherf vor allem als ehemaliger Bürgermeister von Bremen bekannt. Schon 1963 in die SPD eingetreten, studierte Scherf zunächst Jura und schlug dann die Fachrichtung Staatsanwalt ein, bevor er Mitglied der Bürgerschaft und dann des Senates wurde. Sowohl vor als auch nach seinem beruflichen Ruhestand galt sein besonderes Interesse stets einem breit gefächerten Engagement für die Gesellschaft, vom Präsidium des Kirchentages bis zum Vorstand des Chorverbandes und brachte dem über zwei Meter großen Norddeutschen sogar den „Orden wider den tierischen Ernst“ ein.
Seine Qualitäten im Umgang mit Menschen stellte der Politiker eindrucksvoll unter Beweis, gleich einem Zauberkünstler hatte er seinem Publikum im Verlauf einer Runde durch den Saal zwar keine Wertgegenstände, aber doch wertvolle Informationen entlockt: Ob Alter der Ehrenbürgerin oder Anliegen der Initiative Netzwerk, alles Relevante hatte er bereits in seinen Plan aufgenommen und animierte gleich dazu, sich mutig zu Wort zu melden. „Bitte lassen Sie mich nicht alleine reden“, denn Einsamkeit ist eines der größten Probleme der alten Menschen in heutigen Tagen.
„Wenn man nachts durch die Straßen fährt, ist in 50 Prozent der Häuser nur Licht an einem Fenster“, eine Folge des traditionellen Eigenheim-Baus in kinderreichen Zeiten. Nun aber lebten dort einzelne Menschen, denen das Treppenhaus beschwerlich wird und die Badewanne gar zur tödlichen Gefahr.
Ein barrierefreier Umbau steht nun dringend an, aber das kostet Geld. Wenn man nun aber dieses Geld hat und damit bereit ist, tiefgreifende Veränderungen in seinem Leben zu gestalten, gibt es auch noch andere Ideen, die nur leider noch keine breite Öffentlichkeit gefunden haben und auch bei den Kommunalpolitikern noch nicht recht angekommen sind.
„Man kann das nicht nur den Sozialpolitikern überlassen“, sondern muss selbst die Kraft aufbringen, praktische Veränderungen anzugehen – „im Kopf ist es schon vielen klar.“ Im heute viel länger dauernden „Alter“ hat sich nach Ansicht von Dr. Henning Scherf nämlich einiges verändert, „da geht noch was“, man muss es nur ausprobieren, um nicht in eine lange Phase der Ängste und Einsamkeit zu geraten. Er selbst und seine Frau Luise (seit 55 Jahren verheiratet) hatten freilich den Vorteil, dass sie in einer Studentenehe schon früh ihre drei Kinder hatten und nach deren Auszug mit „Mitte 40“ noch jung genug für neue Ideen waren. „Es wurde still bei uns“, so die Erkenntnis, gefolgt von der Frage, ob das denn künftig so bleiben solle.
Da diese Frage nicht nur sie selbst betraf, trugen die Scherfs sie in ihren Freundeskreis weiter, woraufhin sich erste Ideen für ein Zusammenwohnen ergaben, aber auch ebenso viele Zweifel, ob man sich denn nicht doch auf die Nerven gehen werde. „Da hilft nur ausprobieren und lernen, wie es geht“, zum Beispiel, indem man sich für einige Tage oder Wochen in einer bereits existierenden Wohngemeinschaft einquartiert. Freilich führt dieser Lernprozess auch bei einigen zu der Erkenntnis, dass diese Lebensweise nicht ihrem Ideal entspricht: „Als es ernst wurde, waren wir noch zehn“, darunter ein katholischer Priester, „und ich evangelisch – wir haben uns viel zu erzählen!“
Mittlerweile seit 28 Jahren zusammen, musste die WG zunächst noch eine riesige Hürde nehmen, nämlich die Finanzierung ihres Traumhauses inklusive barrierefreiem Umbau. Wegen der einschneidenden Veränderungen in der Bausubstanz ist der Erwerb eines stark renovierungsbedürftigen Hauses zum entsprechend günstigeren Preis nicht ungeschickt, die Kosten wurden durch den Verkauf der vorherigen Eigenheime und einen Baukredit gestemmt, wer nicht genug Geld dafür hatte, zog bei den anderen als Mieter ein. Bewusst vermieten die mittlerweile noch sechs verbliebenen älteren Bewohner die freien Zimmer an junge Leute, die in der Regel nach einigen Jahren auch wieder ausziehen, weil das Studium beendet ist oder eine Familiengründung mehr Platz bedarf: „Erst hatten sie das Alter unserer Kinder, heute eher das Alter der Enkel.“
Für Familienbesuch muss natürlich auch genügend Platz vorhanden sein, außerdem hat man sich entschlossen, nicht zu viel Gemeinschaft zu erzwingen. So hat jede Wohnpartei ihre eigenen Räume mit Kochnische, statt Gemeinschaftsküche besteht die Möglichkeit, andere einzuladen. Schon bei der Frage, wann gefrühstückt werden soll, zeigten sich so große Unterschiede, dass der Privatsphäre größere Räume als zunächst gedacht eingeräumt wurden, allerdings gibt es auch den „Betontermin“ Samstagsfrühstück, damit alle Bewohner einmal pro Woche auch miteinander reden, denn es gibt durchaus „Reibereien“, die besprochen werden müssen. Als Gastgeber fungiert dabei jeder reihum, wobei sich selbst bei den Studenten hier keine finanziellen Schwierigkeiten ergeben: „Die Vorstellung, dass das nur mit Betuchten geht, habe ich nicht.“ Viel wichtiger ist es, die richtigen Mitbewohner zu finden.
Ein Pferdefuß ist dann aber schon finanzieller Art, denn zum Beispiel in teuren Wohnlagen wie Königstein ist ein geeignetes Wohnobjekt für Normalbürger kaum zu finanzieren. In diesem Fall empfahl der Referent, sich einige Kilometer weit in Richtung Land von der Stadt zu entfernen, dort sind die Preise schnell wieder bezahlbar und die dortigen Kommunalpolitiker hätten eher schon erkannt, dass eine Alten-Wohngemeinschaft einen gelungenen Ausgleich zum Wegzug der jüngeren Einwohner darstellt: „Zehn Kilometer sind überbrückbar.“ Aber auch in Ballungsgebieten sollten sich die Politiker diesbezüglich einmal „auf die Hinterbeine setzen“, vor allem, wenn wieder einmal leerstehende Gemeindehäuser oder gar Kirchen zum Verkauf stehen.
Nachdem die vorgestellte Lösung nicht nur gut klingt und „Leben ins Haus bringt“, bleibt nach Jahren des Funktionierens noch der Aspekt zu klären, wie es in höherem Alter weitergehen soll. Wie in einer intakten Familie auch, bleibt stets die Wahl zwischen Auszug ins Pflegeheim oder heimischer Pflege offen, so auch bei den Bremern. Die allerdings haben schon zwei Jahre nach Gründung ihrer WG ihre „Nagelprobe“ bestanden und gemerkt, dass die Pflege von Todkranken in den eigenen vier Wänden tatsächlich machbar ist. Mehr noch: Das Verhältnis zu den eigenen Kindern ist sehr viel entspannter geworden, als diese merkten, dass die Eltern nicht alleine auf sie bauen, wenn sie in altersbedingte Schwierigkeiten geraten.
Dafür allerdings muss man auch schon wieder etwas tun, wie zu Anfang der WG gilt „ausprobieren und lernen“. So hat Henning Scherf sich inzwischen in einigen der rund 1.000 in Deutschland existierenden Pflege-WGs umgesehen und festgestellt, dass auch das geht. Mit höherem Grad an Gemeinschaftsräumen wirkt sich das Zusammenleben sogar bei Demenzkranken positiv auf den Allgemeinzustand aus, vor allem überwiegt das Gefühl, noch immer ein Teil der Gesellschaft zu sein und meist auch noch, den eigenen Fähigkeiten gemäß, etwas dazu beizusteuern.
Trotz großer Hürden am Anfang, die man am besten also in etwas jüngeren Jahren angeht, sieht Dr. Henning Scherf große Chancen, dass sich sein Modell der Wohngemeinschaft im Alter künftig mehr durchsetzt. Denn trotz der gescheuten Veränderungen steigt damit die Lebensqualität und fördert das Gefühl, mit steigendem Alter auch noch glücklich zu sein, wenngleich nach anderen Maßstäben als in der Jugend: „Ich will Sie neugierig machen aufs Altwerden!“