Königstein (as) – Christian Lindner kommt! – die gelben Plakate hatten es seit Tagen wie die Spatzen von den Dächern gerufen – und halb Königstein ist auf den Beinen. Um 17.30 Uhr ist am vergangenen Mittwoch Einlass im Haus der Begegnung zum Wahlkampfauftritt des FDP-Bundesvorsitzenden und ehemaligen Finanzministers und von Bettina Stark-Watzinger, die wie ihr Parteichef bis November 2024 als Bundesbildungsministerin zur Bundesregierung gehörte und als Direktkandidatin der Freien Demokraten im Wahlkreis 180, zu dem auch Königstein zählt, antritt.
Um halb sechs ist der ausgewiesene Parkplatz auf dem Pater-Werenfried-Platz längst voll und gesperrt, die per Auto angereisten Wahlkampfinteressierten suchen etwas hilflos in der Wiesbadener Straße und der Siedlung nach Abstellmöglichkeiten für ihre Fahrzeuge. Vor dem HdB ist die Schlange am Eingang da bereits gut 50 Meter lang. „Das hätte ich nicht gedacht“, lautet die verblüffte Reaktion einiger, die sich um diese Zeit schon auf einem guten Platz im großen Saal gesehen hatten. Natürlich gibt es Einlasskontrollen, nicht nur wegen der Schaumtorte, die Lindner kürzlich von einem Linken-Mitglied in Greifswald abbekommen hatte. Ein Thema, mit dem der FDP-Spitzenkandidat, der als Enkel und Sohn von Konditormeistern aufgewachsen ist, später im Saal quasi zur Auflockerung zwischen Finanzpolitik und Bürokratieabbau noch einmal für Lacher sorgt. Aber das sei vorweggenommen: Attacken, gar körperliche, bleiben an diesem Abend aus.
Lindner befindet sich ganz eindeutig auf heimischem Territorium. Die FDP Hochtaunus mit ihrem Vorsitzenden Ascan Iredi aus Königstein und ihrem hessischen Fraktionschef Stefan Naas aus Steinbach weiß ganz genau, warum sie ihren charismatischen Frontmann, der so schön polarisiert zwischen Anhängern und Gegnern wie kaum ein anderer Berufspolitiker, der jedenfalls niemanden kalt lässt, nach Königstein gelotst hat und nicht nach – sagen wir – Grävenwiesbach. Hier ist das Publikum mit großer Mehrheit auf seiner Seite. Nur bei der Königsteiner Bürgermeisterin Beatrice Schenk-Motzko und einigen Vertretern der Königsteiner Fraktionen, die in den vorderen Reihen Platz genommen haben, müsste man da noch mal nachfragen... FDP und Pro-Kopf-Einkommen passen naturgemäß gut zusammen.
Zuletzt war Lindner 2023 im Rahmen des deutsch-chinesischen Finanzdialogs in Frankfurt auch in der Burgenstadt zu Gast, wie er der Königsteiner Woche später in einer kurzen Atempause bei seinem Abgang aus dem Saal sagt. Als Wahlkämpfer war er davor 2021 ebenfalls vor der Bundestagswahl auf dem Kapuzinerplatz aktiv. Danach gab es 17,3 Prozent der Zweitstimmen für die FDP und gar 23,5 Prozent in Königstein. Zahlen, die für eine „Hochburg“ sprechen, und Werte, die sich der Mann, der einst die „Strategie 18“ (Prozent der Stimmen) ausgegeben hatte, heute nicht mehr erträumen darf. Vielmehr kämpft Christian Lindner um fünf und vielleicht ein paar mehr Prozent, vor allem um den Wiedereinzug in den Bundestag und damit (an der Seite der Union) um die Chance auf eine politische Wende und eine Wirtschaftswende, von denen am Abend so häufig noch die Rede sein wird.
Der avisierte Beginn um 18 Uhr ist bereits verstrichen, das Haus der Begegnung ist längst weit mehr als bis auf den letzten Platz gefüllt. Hinter der letzten Stuhlreihe und auf der Empore sind auch alle Stehplätze vergeben, gut und gerne 600 Anhänger und Interessierte warten auf den Politstar. Ascan Iredi weiß zu berichten, dass rund 100 etwas zu spät Gekommene abgewiesen werden mussten. ‚Wenn wir nicht reinkommen, wählen wir die Grünen‘, habe er gehört, erzählt Iredi dem Publikum, aber solche „Drohungen“ quittiert der Königsteiner FDP-Boss mit einem Augenzwinkern. Jeder weiß, wie weit die Positionen der beiden Parteien auseinanderliegen. Weiter geht es zurzeit nicht mehr innerhalb des demokratischen Spektrums. Abwanderungen von Wählern sind hier wohl eher nicht zu befürchten.
Und dann, 18.13 Uhr, ist er da. Durch einen Seiteneingang und flankiert von zwei Personenschützern betritt Christian Lindner seine Wahlkampfarena, begrüßt zunächst seine Parteifreundinnen und -freunde. Warmer, aber noch kein euphorischer Applaus. Am Morgen Göttingen (mit Protesten aus dem linken politischen Lager), am Mittag Melsungen (vor 300 Zuhörern, wird kolportiert) und am frühen Abend Königstein, ehe es mit dem Flieger wieder zurückgeht nach Berlin. Wahlkampf ist anstrengend, da muss man es sich auch ein bisschen gemütlich machen. Und so trägt der 46-jährige Rheinländer nicht wie fast immer im politischen Betrieb oder bei TV-Auftritten einen Anzug und Krawatte, sondern leger einen beigen Wollpullover mit hellem Hemd darunter und eine dunkle Jeans. Ebenso fast unauffällig nimmt er nach einem Winken ins Publikum in der ersten Reihe Platz, denn die Bühne gehört zunächst Bettina Stark-Watzinger.
Sie hat als Neuenhainerin ein echtes Heimspiel, beackert in diesen Tagen in ihrem Wahlkreis eher die kleinen, lokalen Bühnen, am nächsten Tag spricht sie mit Erstwählern und solchen von morgen an der Altkönigschule in Kronberg. Sie liefert mit einem engagierten Beitrag zu vielen Themenfeldern, die die Freien Demokraten reformieren möchten. Freiheit, Mut, Leistungsbereitschaft und -gerechtigkeit, ein schlanker Staat. Das sind die Grundpfeiler, auf denen die FDP-Politik fußt. Das kommt gut an im Saal, alles Steilvorlagen für ihren Parteichef, die Choreographie des Duos wirkt gekonnt.
Dann nimmt sich Christian Lindner die Freiheit: der freien Rede, denn er spricht direkt vor der ersten Reihe stehend mehr als eine Stunde lang ohne Manuskript, ohne sich an irgendeiner Stelle zu verhaspeln oder dass der Argumentationsfaden auch nur ansatzweise reißt. Ein Politikprofi eben. Und er nimmt sich die Freiheit, immer wieder teils harsche, teils mit Witz formulierte Spitzen gegen seine beiden Hauptwidersacher Olaf Scholz und Robert Habeck, die bis vor kurzen noch seine wichtigsten Partner in der gescheiterten Ampelkoalition waren, einzuflechten. Ein Wahlkampfprofi eben.
Bei seinem Parforceritt durch die wichtigsten Wahlkampfthemen lässt der FDP-Spitzenmann nichts aus: Schuldenbremse, die richtige Wirtschaftspolitik in Zeiten einer faktisch vorhandene Wirtschaftskrise, den Umgang mit Donald Trump und die Gestaltung der transatlantischen Beziehungen, der Krieg in Europa, die Entlastung der Bürger – bei der FDP vor allen der Leistungsbereiten –, die entbrannte Diskussion um Sozialversicherungsbeiträge auf Kapitalerträge, Finanzpolitik, Klimaschutz, künstliche Intelligenz, Bürokratieabbau – die Migrationspolitik bleibt trotz der bekannt deutlichen Position der FDP bei diesem Thema an Tag eins des Anschlags von Aschaffenburg noch angenehm unaufgeregt. Alles würde Lindner anders machen als er es als Teil der gescheiterten Regierung offenbar bisher konnte. Ein Faktum spricht er aber aus, bei dem sich die Vertreter aller Parteien der politischen Mitte einig sein dürften: „Die nächsten vier Jahre muss Politik liefern.“ Und die FDP ist willens, ihren Teil dazu beizutragen und nicht wieder bei den „Kleinen“ nur in der Oppositionsbank zu sitzen.
Es ist Christian Lindners Schlusssatz an diesem Abend, und der Applaus ist deutlich hörbarer und sichtbarer als zu Beginn, teilweise gibt es sogar stehende Ovationen. Es folgt – die Schaumtorte ist weit weg – ein Bad in der Menge mit Zeit für Selfies und Bürgerfragen. Ein paar Minuten auf Tuchfühlung gehen mit dem Spitzenpolitiker, das wollen viele. Dann ist er weg … der Flieger in Frankfurt, der auch auf Christian Lindner nicht wartet. Aber der Auftritt hallt nach. „Er war sehr kurzweilig, reden kann er“, lautete der Eindruck von Martin Igges, dem Vorsitzenden des Vereinsrings Mammolshain, sein Kassierer Thilo Maier findet, dass der FDP-Chef „nicht brutal geschossen“ habe auf die politische Gegnerschaft. „Er kann diplomatisch reden. Ich fand ihn sehr sympathisch“, lautet der Eindruck des Königsteiner Christiano Gonzalves, der fast zur Entschuldigung für sein Lob seinen CDU-Mitgliedsausweis zeigt. Und Jil Kehrer aus Schneidhain, mit 17 Jahren einer der durchaus zahlreichen jungen Gäste, sagt: „Er hat toll geredet, die Publikum-Interaktion war gut.“
Auch die FDP-Wahlkämpferinnen sind happy mit dem Auftritt ihres Spitzenmanns: „Es war sehr beeindruckend, wie er sein Wissen mit Lösungsansätzen kombiniert hat. Mein Herz hat er erreicht“, so die Königsteinerin Heidi Ehniss, und ihre Steinbacher FDP-Kollegin Inge Naas, Mutter von Stefan Naas, ergänzt: „Wir haben wieder einige Argumente für den Wahlkampfstand gehört. Wir sind optimistisch, dass wir die fünf Prozent bekommen.“ Christian Lindner will mehr – ganz sicher!