Kronberg (mw) – Gemeinsam mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Niklas hat sich Vivien Angermann 2008 die Europameisterschaften im Turmspringen im Fernsehen angeschaut. „Meinen Bruder hat das so begeistert, dass er das unbedingt auch machen wollte“. Gesagt getan, die Eltern meldeten ihn im Höchster Springverein, Abteilung Turmspringen, an. Während Viviens Bruder dort seine ersten Fußsprünge übt, schwimmt und springt Vivien ebenfalls nebenan im ganz normalen Besucherbereich. Bis sie ein paar Monate später von der Trainerin ihres Bruders, Susanne Beyer, angesprochen wird, „ob sie es nicht auch einmal probieren will, mit dem Turmspringen“. Und Vivien will. Trotz ihres Handicaps.
Vivien, inzwischen 15 Jahre alt, kam mit Spina Bifida zur Welt. Spina Bifida (offener Rücken) kann in seiner schlimmsten Ausprägung Querschnittslähmung bedeuten, im leichtesten Fall geringe Einschränkungen beim Gehen, je nachdem, wie stark das Rückenmark geschädigt ist. Die Auswirkungen von Spina Bifida sind vielfältig, durch fehlende Muskeln und Nerven kann auch die Blasen- und Darmfunktion gestört sein. „Ich kann ganz gut laufen, wachse beispielsweise aber nicht so schnell wie andere Kinder, kann meine Füße trotz jahrelanger Krankengymnastik nicht strecken und das Gleichgewicht nicht ganz so gut halten“, erzählt sie. Mit ihren 15-Jahren ist sie dennoch eine gut gelaunte junge Dame, die sich mit ihren Einschränkungen arrangiert hat. Sie weiß, dass ihre Eltern in Babyjahren schon viel Aufregung wegen ihr hinter sich haben, um so froher ist sie, dass ihre Familie inzwischen ganz entspannt mit ihrem Handicap umgeht. „Ich fühle mich eigentlich wohl, genauso wie ich bin“, sagt sie selbstbewusst. Genauso selbstbewusst hat sie mit dem Turmspringen angefangen. Inzwischen springt sie den Fußsprung „gehockt, gehechtet, gestreckt, vorwärts wie rückwärts, genauso wie den Kopfsprung, auch der sogenannte „Abfaller“ gelingt ihr vorwärts und rückwärts vom „Einer“. „Sich beim Dreier rückwärts fallen lassen, das ist schon schwieriger für mich, das versuche ich gerade, habe mich aber noch nicht getraut“, verrät sie. „Man merkt halt doch den Unterschied, ob man auf dem Einer oder Dreier steht – spätestens wenn man herunterschaut“, sagt sie grinsend. Außerdem trainiert sie den Delphin-Kopfsprung und den Salto vorwärts gehockt vom Einer. Vivien muss den gesamten Schwung, den die Springerinnen und Springer normalerweise über die Zehenspitzen und den Armschwung hereinholen, um sich beim Sprung abzustoßen und Höhe zu gewinnen, über die Arme erlangen, eben weil sich ihre Füße nicht auf die Zehen stellen lassen. Zurzeit ist es jedoch eher die Höhe und das leichte Wackeln auf dem Brett, dass sie auf dem Drei-Meter-Brett noch zaudern lässt. Aber sie hat keine Eile, ihr Ziel ist anvisiert und sie arbeitet Stück für Stück an dem Weg dorthin – vor allem mit Spaß an dem Sport und der Bewegung. Erfolge kann sie aktuell auch schon eine ganze Menge vorweisen: In Mainz fanden Ende Januar gerade die Rheinland-Pfalz- und Hessische Meisterschaften im Kunst- und Turmspringen statt. Bei denen hat Vivien, die schon mehrere Wettkämpfe bestritten hat, im Kunstspringen (Turmspringen) vom 1-Meter-Brett, C-Anfänger weiblich den zweiten Platz erreicht und im Kunstspringen vom 3-Meter-Brett, C-Anfänger weiblich den dritten Platz. „In der Kombination C-Anfänger weiblich erhielt sie sogar die Goldmedaille“, freuen sich ihre Eltern. die kein anderes Kind mit dieser Körperbehinderung kennen, das diesen Sport betreibt.
„Ich bin einfach glücklich, dass ich trotz meiner Behinderung ganz verschiedene Sportarten ausüben kann“, sagt sie. Sie ist auch begeisterte Reiterin im Kronberger Reitclub. Bei Wind und Wetter muss sie raus, um sich um ihr Pflegepferd zu kümmern. „Fahrradfahren und Rollerfahren geht übrigens auch prima“, erzählt sie. Den Roller hat sie eigentlich überall dabei, wenn es gilt, längere Strecken zurückzulegen. „Mit dem Roller habe ich keine Probleme, beispielsweise bei Klassenfahrten, an längeren Ausflügen teilzunehmen.“ Vivien schmerzen die Beine und Füße viel schneller als anderen Kindern. „Aber mit dem Roller geht es immer“, sagt sie.“ Ihre Mutter ist ihre treue Begleiterin beim Training, schon alleine aus dem Grund, weil es sich nicht lohnt, mal eben zwischen Höchst und Kronberg hin- und herzufahren. „Sie hat mich auch beim Wettkampf gesehen.“ Wie groß die Freude darüber ist, ist deutlich spürbar. Was sie manchmal nervt und mitunter auch traurig macht, sind nicht die Einschränkungen, sagt sie, die ist sie gewohnt. Nicht gewöhnen will und kann sie sich an die Hänseleien, denen sie seit dem Kursunterricht in der Schule, immer wieder ausgesetzt ist. „Meine Mitschülerinnen und Mitschüler sind alle schon 13 oder 14 Jahre alt“, berichtet sie. „Da sollte man meinen, dass sie langsam vernünftig werden. Aber sie werden es nicht. Sie denken, sie wären cool, sie sind es jedoch ganz und gar nicht!“ Zwei gute Freundinnen hat sie auch, natürlich, aber es zehrt doch an den Nerven, sich immer wieder zu ihrer kleinen Größe „blöde Sprüche“ anhören zu müssen. „Ich versuche dann, die Ohren auf Durchzug zu stellen. Oft machen sie mich auch in meinen Bewegungen nach. Dann gehe ich nach Hause, hole tief Luft und erzähle es meiner Mutter. Es hilft meistens schon, es einfach rauszulassen.“
„Klavier spielen geht übrigens auch ganz gut“, verrät sie über ihre weiteren Hobbys.
Sie singt im Kirchenchor und hat zudem seit anderthalb Jahren Gesangsunterricht. „Sie hat eine wirklich schöne Stimme und hier auch eine super Möglichkeit gefunden, uneingeschränkt eine Stärke auszubauen, bei der die Behinderung sie nicht einschränkt“, freut sich ihre Mutter. „Beim Lernen brauche ich manchmal ein wenig länger, bis ich es verstehe“, aber die Hauptsache ist doch, dass ich es überhaupt verstehe“, erklärt sie lachend.
Ihr Bruder hat übrigens zwischenzeitlich das Turmspringtraining abgebrochen. Grund dafür war der damalige USA-Trainer, der den Verein inzwischen verlassen hat. Den habe allein die Leistung interessiert. „Alle die ihm nicht gut genug waren, hat er rausgeschmissen.“ „Unsere jetzige Trainerin ist hart aber herzlich, genau die richtige Mischung“, findet Vivien, die ihr Selbstbewusstsein nun auch über diese herausragende Leistung im Sport ziehen kann. „Ich kann zwar aufgrund meiner Behinderung keinen doppelten Salto, aber das macht nichts. Ich bin froh, dass es mir so gut geht.“ Und deshalb hat sie sich ihr ganz eigenes Ziel gesetzt, nämlich es noch einmal mit dem „Abfaller rückwärts“ auf dem Dreier zu versuchen. Hut ab vor dieser Leistung, und: Weiter so, Vivien!