Kinoleinwand, Ort der Begegnung, Zusammenführung – Frau Müller-Raidt und die fabelhafte Welt der Lichtspiele

Kronberg (mg) – Es mutet emotional ein stückweit an, als ob man ein „gemütliches Kirchengebäude“ besucht, ohne Schuld und Sühne und ganz gewiss ohne Predigt, höchstens auf der Leinwand. Es ist vielmehr der Aspekt der Entspannung, den man vergleichen kann. Und Entspannung entsteht und existiert in vielerlei Hinsicht. Wichtig ist nur, sie zu erleben. Mit dem ersten Schritt über die Eingangsschwelle ist man in einer anderen Welt angekommen – an einem Ort, der bewusst dazu einlädt, den Alltag und das Drumherum für einen gewissen Moment hinter sich zu lassen. Man muss nichts dafür tun, es geschieht einfach so. Die Kronberger Lichtspiele sind ein wunderschönes Kino mit Wohlfühlcharakter und großem kommunalen Bezug in der Kronberger Altstadt. Nicht jedes Städtchen besitzt ein solch großes Kleinod. Dass es sich hierbei nicht lediglich um einen wirtschaftlichen Betrieb handelt, sondern vielmehr um eine Herzensangelegenheit, ist von der ersten Sekunde an deutlich spürbar. Dezent beleuchtete Servicetische an den komfortablen Hochpolstersesseln, überdurchschnittlich große Beinfreiheit für die Besucherschaft und 15 Doppelsessel für die Zweisamkeit auf insgesamt 132 Plätzen inklusive eines passenden Getränkeangebots, das von Wein über frischen Kaffee hin zu kleinen Leckereien führt, erklären das Prinzip des persönlichen Filmtheaters, das klassisch in rot und schwarz gehalten ist. Im Oktober dieses Jahres bekam Vanessa Müller-Raidt somit nicht von ungefähr bereits zum zweiten Mal in Folge für ihr „herausragendes Film- und Veranstaltungsgebot“ den Hessischen Film- und Kinopreis verliehen.

Der Kosmos Lichtspiele

Dass die Kronberger Lichtspiele nicht ausschließlich ein Kino sind und Vanessa Müller-Raidt nicht lediglich eine Kinobetreiberin, merkt man nicht zuletzt am Gesamtkonzept des Lichtspielhauses. Ehemals an der Börse tätig, leitet sie das Kino, sie manövriert es sozusagen mit ihrer ganzen Persönlichkeit und nimmt die gesamte Tradition, die der Kinosaal in seinen Veränderungen seit dem Jahr 1926 durchlebte, mit an Bord der Institution, kombiniert und gestaltet diese gleichwohl mit ihren eigenen Vorstellungen und entwickelt stetig das Ensemble mit Kompetenz, Feingefühl und Wertschätzung weiter. Dazu gehört parallel zur klassischen Programmgestaltung, die mit Überlegung und Bedacht ausgesucht wird, das Umsetzen von neuen Veranstaltungsformaten. Neben klassischen Kinofilmen, kulturell anspruchsvollen Produktionen, einem abwechslungsreichen Kinderfilmprogramm und Dokumentationen verschiedener Art finden auch Veranstaltungen häufig genug mit gesellschaftspolitischem Charakter statt. Da feiert der ortsansässige Tierschutzverein sein 60jähriges Jubiläum mit einem Film über den Wald und seine Bewohner, in Matinee-Veranstaltungen werden namhafte Buchautoren, Regisseure und Schauspieler dem Publikum präsentiert, Lesungen finden statt, die Royal Opera London wird auf die Leinwand gezaubert, zum Whisky-Tasting wird ein „Film-Gaumenschmaus“ gereicht oder es finden im Anschluss an den Spielfilm „Weißt du noch“, in dem es um das Vergessen an sich und die dazugehörige Gefühlswelt geht, ein Treffen und Diskurs mit Mitarbeiterinnen des Demenzforums des Hochtaunuskreises statt.

Beispiel des Zusammenführens

So geschehen am 12. November. Vor der Filmvorstellung stellten sich die Vertreterinnen der Demenzforen des Hochtaunuskreises und des Usinger Lands dem Publikum im ausverkauften Kinosaal vor. Alexandra Rauf, Anja Schreher und Corinna Porps kommunizierten die inhaltliche Verbindung zum Film, in dem ein seit 50 Jahren verheiratetes Ehepaar, das sich aus den Augen und den Gefühlen zueinander verlor, mit Hilfe einer „Wunderpille“ gemeinsam die lange Zeit erneut erinnert, erlebt und die jeweiligen individuellen Wahrnehmungen äußert. Die Hauptaufgabe von Fachkräften in der Betreuung von Menschen mit Demenz sei es ebenfalls, die Erinnerungen der Betroffenen zu aktivieren. Es wurde betont, dass rechtzeitiger gemeinsamer Umgang mit dem Thema und das Kennenlernen von Hilfestrukturen dazu diene, besser mit dieser herausfordernden Situation zurechtzukommen. Eine wichtige Erkenntnis aus dem Film „Weißt du noch“ sei, dass „das Herz nicht dement werde“. Man existiere durch und mit seinen Erinnerungen, die wiederkehren. Ein essenzieller Moment im Kontext von Demenz und den Betroffenen und deren Angehörigen. Alltagsbegleiter von Demenzkranken versuchen, das „Altgedächtnis“ wieder aufleben zu lassen. Der für Erinnerungen zuständige Teil des menschlichen Gehirns, der Hippocampus, kann häufig noch genutzt werden, so dass Betroffene dann in der Zeit leben, an die sie sich gerade erinnern. Mit all den dazugehörigen Emotionen, negativ wie positiv. Es wird sogenannte „Biographiearbeit“ geleistet. Im Verlauf dieser Erkrankung tritt die reine emotionale Ebene eines Menschen immer mehr in den Vordergrund, so dass in erster Linie auch diese – wie auch immer – „angesprochen“ werden muss. Alexandra Rauf betont im Gespräch nach der Vorstellung: „Kennen Sie einen Menschen mit Demenz, kennen Sie (nur) einen Menschen mit Demenz.“ Das bedeutet, dass jede Situation und jeder betroffene Mensch einzigartig sind. Gewiss gebe es einige Parameter, die man aus Erfahrung kenne, und dennoch sei die Individualität der Persönlichkeit die große Unbekannte im Umgang mit der Erkrankung, ergänzt sie. Die Fachbetreuung sei dafür da, alle Komponenten frühzeitig an einer Stelle zu bündeln, und zwar in neutraler und kostenfreier Art. Die Pflege sei ein schmaler Grat für die Pflegenden, es entstünden Schuldgefühle, denn die Verlässlichkeit des Konsens in der Kommunikation mit dem oftmals geliebten und nahestehenden Betroffenen sei nicht mehr gegeben, gleichzeitig fiele es schwer, den Erkrankten die Autonomie ein stückweit „wegzunehmen“. Auch das hat vermutlich mit gemeinsamen Erinnerungen zu tun und ist im selben Moment ein tatsächlicher großer Prozess von Trauer. Ähnliches erlebten die Protagonisten im Film – unabhängig vom Thema Demenz. So wurde niederschwellig ein zutiefst bewegendes Thema transportiert und im selben Zug in den Kronberger Lichtspielen dargestellt.

Institution

Am Schluss dieses Beitrags möchte die Redaktion noch einmal auf Vanessa Müller-Raidt zurückkommen. Das Kronberger Publikum verlässt sich auf die Kinoleitung, bisweilen wissen Stammgäste gar nicht so genau, was sie erwartet, wenn sie dem Lichtspielhaus in der Friedrich-Ebert-Straße Nummer eins einen Besuch abstatten. Das geschieht sogar bewusst, denn sie verlassen sich auf Müller-Raidt und ihre Programmgestaltung, sie gehen davon aus, nicht enttäuscht zu werden. Das hat mit Vertrauen, Aufmerksamkeit und positiver Kontinuität zu tun. Und damit, dass das Publikum und seine Vielfalt im Vordergrund stehen. Nur Orte wie dieser bieten so viel Persönliches und sind ein Resultat dessen, dass Vanessa Müller-Raidt und ihr Team Kronberg stets im Blick haben. Das kulturelle Wesen eines Kinobetriebs an sich steht hier noch deutlich im Vordergrund. Es erfordert viel Mut, Überzeugung und Kraft, sich einer Sache so zu widmen und zu verpflichten. Und folglich muss man „das Ganze“ schon sehr gerne machen. Daran erinnert man sich gewiss stets mit einem guten Gefühl.

Ein Teil des großen Kleinods Kronberger Lichtspiele, der attraktive Kinosaal Fotos: Göllner

Die zweifache Preisträgerin Vanessa Müller-Raidt

Die Vertreterinnen der Demenzforen des Hochtaunuskreises und die Kinoleitung

Im Anschluss an den Film zeigten sich Besuchende interessiert am Thema Demenz

Weitere Artikelbilder



X