Textile Bilder über die Schönheit des Verfalls –Jutta Briehns genähte Collagen „Lost Places“

Kronberg (hmz) – Jutta Briehns Textilkunst will mit dem Auge verstanden werden; die harmonisch abgestimmten Farbflächen, deren unterschiedlich große Stoffstücke ganz ungewöhnliche Raumeffekte erzielen, haben ihren eigenen Zauber. Die Vielfalt der verwendeten Textilien ist weit mehr als bloße Optik. Neben der Flut aus Farbe verlocken Ornamente und Muster das Auge, geben Kontraste der Fantasie weiten Raum. Große Bilder voller kleiner Bilder schicken das Auge auf Reisen, auf eine Entdeckungstour für das Detail. In ihrer neuen Serie „Lost Places“ kombiniert Jutta Briehn etwa Zeitungspapier oder Fotografien mit Textilien und verbindet beides zu Collagen. Auf den „Lost Places“ lastet eine gewisse Melancholie des Vergessens, diese Stimmung fängt sie mit Stoffen, farblich fein nuanciert, ein – Bilder über die morbide Schönheit des Verfalls jener „Lost Places“, die sich selbst und damit der Zerstörung überlassen wurden. „Dann stellt man sich vor, wie das früher wohl hier ausgesehen haben mag und wie die Zeit Veränderungen herbeigeführt hat“, so Jutta Briehn, die sich mit ihrer Textilkunst längst einen Namen weit über die Region hinaus gemacht und zahlreiche Ausstellungen gestaltet hat.

„Um Papier ‚nähbar‘ zu machen, verwende ich eine spezielle Technik, die das Papier weich macht und dadurch fast die Anmutung von Stoff erhält. Es lässt sich dann sowohl von Hand als auch mit der Nähmaschine nähen, ohne zu zerreißen.“ Da sie für jede ihrer Arbeiten nur Originale verwendet und keine Fotokopien, sind alle Collagen Unikate. Die Vielfalt der feinen textilen Strukturen des Materials hat sich unter ihren Händen zu einer „stofflich“ gewordenen Komposition verändert. „Ich kann nicht anders, ich bin dem textilen Gestalten restlos verfallen“. In ihrem Atelier lagern Stoffe, die sie überall und seit Jahren gesammelt hat. Kleine „Schätze“, die irgendwann ein großes Ganzes ergeben und Betrachterinnen und Betrachter in ganz eigene Sichtweisen führen und vielleicht irgendwann wieder in einer Ausstellung zu sehen sein werden.

Die Collagen zeigen Ansätze von Perspektiven, aber die Linien brechen dann unvermittelt ab, verschieben sich aus der Achse, werden zerschnitten von Linien, die anderen Raumkonstruktionen angehören; reine Flächen stehen neben plastischen Motiven, gegenständliche Formen neben rein abstrakten. „Lost Places haben eine geheimnisvolle Ausstrahlung und Faszination, die inzwischen viele Kunstrichtungen erfasst haben, besonders die Fotografie“. Jutta Briehns Motive sind zum Beispiel ein von einem Erdbeben zerstörtes Hotel auf der Azoreninsel Sao Miguel oder die ehemalige Villa des Juweliers P.C. Fabergé in der Nähe von St. Petersburg, die in den Wirren der russischen Revolution Plünderern zum Opfer gefallen ist. Die Völklinger Hütte, ein Weltkulturerbe, war bis ins Jahr 1986 eine der größten Eisenverhüttungsbetriebe. Die riesigen Maschinenhallen, Gebläse und Hochöfen stehen still „und bieten selbst in der Verlassenheit und Leere einen imposanten Anblick“, so die Textilkünstlerin weiter. Diese Kunstform „hat durch die Kombination mit Papier oder Materialien wie Sand oder Plastik eine einzigartige dreidimensionale Optik entwickelt, und die Gestaltungsmöglichkeiten sind endlos und mittlerweile tief in der Kunstszene verankert.“

Manchmal spiele der Zufall eine Rolle: Während eines Urlaubs in Palermo habe sie im Palazzo Belmonte Riso die raumfüllende textile Wanddekoration einer italienischen Künstlerin gesehen. „Meine Idee war geboren, die gesamte Wand der Mauer zum Prinzengarten auf der Burg Kronberg mit einem textilen Portal zu verkleiden.“ Der Titel „Portal“ sollte das tatsächliche Tor zum Prinzengarten textil widerspiegeln. Das bedeutete, eine zwölf Meter breite und fünf Meter hohe Wandfläche zu verkleiden – eine Größenordnung, die Jutta Briehn vor eine große Aufgabe stellte.“ Die applizierten Teile hatten die Zierelemente der Giebelleisten wie Rosetten und Türmchen in Originalgröße sowie die Sandsteinumrandung und die Holzmaserung der Tür aufgenommen.

Ein Jahr lang hat dieses Portal Wind, Sonne, Regen und Schnee getrotzt. Nach der Vernissage wurde zur „Verrissage“ auf die Burg eingeladen. Jeder, der wollte, durfte sich ein Stück aussuchen und herausschneiden, allerdings gegen einen Obolus in die Spendenkasse der Burg. Diese Installation im Jahr 2019 war der vorläufige Höhepunkt ihres Schaffens, jetzt könnte Jutta Briehn mit „Lost Places“ und den zudem angedachten „Lost Gardens“ ein weiteres Stück „Stoffgeschichte“ gelingen. Als sie vor dreißig Jahren den Arbeitskreis „Textiles Gestalten“ in der Kronberger Kunstschule gründete, waren es zunächst „Quilts“ für den alltäglichen Gebrauch. Jetzt sind es reizvolle Arbeiten über die Poesie der Vergänglichkeit.

Textilkünstlerin Jutta Briehn

Jutta Briehn erzielt mit unterschiedlich großen Stoffstücken ganz ungewöhnliche Raumeffekte.
Fotos: privat

Weitere Artikelbilder



X