Jeder Grabstein erzählt eine Geschichte

Nur mit Kopfbedeckung betreten Männer den Jüdischen Friedhof an der Altkönigstraße. Im Hintergrund direkt angrenzend ist die Wohnbebauung zu erkennen. Auf übliche Abstandregelungen bei Friedhöfen ist dabei kaum geachtet worden. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Abraham Schwarzschild, Moses Herzfeld, Jettchen Grünebaum, Amalie Heilbronn, Alfred Feinberg … und noch knapp 40 weiteren Menschen jüdischen Glaubens ist ein Buch über den alten jüdischen Friedhof in Oberursel gewidmet. Stellvertretend für alle die anderen, die einst in der Stadt lebten und eine bunte Gemeinde bildeten, ehe viele zwangsweise die Stadt verlassen mussten, verhaftet, verschleppt, eingekerkert, ermordet wurden.

Das Buch von Angelika Rieber und Lothar Tetzner über den jüdischen Friedhof in Oberursel ist den Menschen und ihren Familien gewidmet, die hier begraben wurden. Aber auch all jenen, die einst in der Stadt zu Hause waren, die Zügeweise abtransportiert wurden und nie wieder kamen... Eine farbige Dokumentation, ein Stück Zeitgeschichte, Ehrerbietung gegenüber den Verstorbenen und Mahnung den noch Lebenden.

„Hier ruht eine tüchtige Frau, Krone ihres Hauses, gottesfürchtig, lauter und aufrecht.“ So steht es in Stein gemeißelt auf dem Grabstein von Jettchen Grünebaum, eine geborene Herzfeld aus der Ackergasse, die im September 1871 auf dem kleinen Friedhof an der Altkönigstraße zur letzten Ruhe gebettet wurde. Wenn der Messias sein Nahen mit Posaunenschall ankündigt, um die Toten zu wecken, sollen diese bereit sein für den Übergang in eine andere Welt. Die auf dem Jüdischen Friedhof begrabenen Toten blicken, wenn sie einst auferstehen, gleich in die richtige Richtung. Alle Gräber dort sind nach Jerusalem ausgerichtet, so ist es jüdischer Brauch. Wenn die Sonne im Osten aufgeht, fließt klarer Lichterglanz über die meist reichlich verwitterten Grabsteine aus einer anderen Zeit, die auf dem Friedhof 1935 abrupt endete.

Alle erzählen eine Geschichte vom „einstigen Reichtum jüdischen Lebens in der Stadt“, wie es Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, bei der Vorstellung des Buches nannte.

„Hier ruht eine tüchtige Frau …“, die kurze Erinnerung an Jettchen Grünebaum in der Grabinschrift ist zum Übertitel des Buches der seit Jahrzehnten unermüdlich forschenden Historikerin Angelika Rieber geworden. So wie diese eine überaus tüchtige Frau sei, fand Daniel Neumann einen schönen Zusammenhang zwischen Forscherin und Forschungsobjekt. Rieber sei der „Stachel im Fleisch“, im positiven Sinne eine „Nervensäge“, die mit ihren Arbeiten Andenken bewahre, Erinnerung für Familienangehörige möglich mache, Forschern Spuren biete. Vor allem aber eine Frau, die sich zur Aufgabe gemacht habe, „Geschichte dem Vergessen zu entreißen“, so Bürgermeister Hans-Georg Brum, der seit einer Reise nach Israel vor vielen Jahren Mitglied der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) ist, der Angelika Rieber vorsitzt. Brum hob den Einsatz vieler Menschen und Gruppierungen in Oberursel hervor, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu bewahren und die Geschichte kritisch aufzuarbeiten.

Ort des ewigen Lebens

Der Friedhof ist nach jüdischem Verständnis ein Beth-Hachajim, wie es im Hebräischen heißt, ein Haus des (ewigen) Lebens“. Ein Ort des ewigen Lebens ist er für die Toten, die hier Liegerecht haben bis zur Auferweckung durch den Messias. Das gebietet eine jüdische Glaubensvorschrift. Die Geschichten auf den Grabsteinen aber sind vergänglich. Immer mehr verblassen, zerbröseln, verwittern, an manchen hat der Zahn der Zeit schon heftig genagt. Es gehört zum Verdienst des Buches „Der jüdische Friedhof in Oberursel“, dass es dabei hilft, die Erinnerung an diejenigen zu bewahren, die hier begraben liegen. „Die Grabsteine sind sprechende Zeugnisse der Vergangenheit“, schreibt Angelika Rieber. Sie erzählen uns von den einstigen jüdischen Gemeinden und ihren Mitgliedern, sie geben Hinweise auf die gesellschaftliche Stellung und das Leben der Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben. „Hier ruht ein gerechter und aufrechter Mann unter den Freigebigen, er ging stets den Weg der Guten, seine Seele hing an dem lebendigen Gott und all sein Tun geschah um Gotteslohn.“ So steht es in hebräischen Schriftzeichen auf dem Grabstein von Heimann Herzfeld, gestorben im November 1874.

Akribisch notiert finden sich die zusammengetragenen Puzzleteile aufgeführt im quadratischen Buch mit der markanten Spiralbindung. Zu jedem Namen und zu jedem Text gibt es ein Foto, für Nachfahren früherer jüdischer Bewohner der Taunusstadt eine Fundgrube, für deren Kinder, Enkel und Urenkel sind die Gräber Orte der Erinnerung.

Immer wieder kommen Suchende zu Angelika Rieber, zu ihren Führungen über den Friedhof, zuletzt am vergangenen Sonntag im Rahmen des „Tag des Denkmals“, kommen Menschen aus vielen Ländern Europas und Übersee, um ihre Vorfahren zu „besuchen“.

Der Theologe und Kenner orientalischer Sprachen Lothar Tetzner hat die Texte auf den Steinen und Stelen entziffert und übersetzt, die Historikerin und profunde Kennerin der Geschichte Oberurseler Juden, Angelika Rieber, hat maßgeblich die familiengeschichtlichen Daten recherchiert und sich außerdem auf Spurensuche zur Geschichte des Friedhofs begeben.

Genau datieren lässt sich seine Gründung noch heute nicht, alle Belege sprechen für den Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. Fest steht, dass der Friedhof 1863 im Gewannbuch als „Israelitentodtenhof“ verzeichnet ist, das älteste erhaltene Grab stammt aus dem Jahr 1866. Angelika Rieber hat bei ihrer Spurensuche noch andere Ungereimtheiten entdeckt, „kein Ruhmesblatt für Oberursel die ersten 20 Jahre nach 1945“, formuliert sie vorsichtig. Die „fragliche Einzäunung“ etwa ohne Einhaltung der Abstandsmarke von 30 Metern zur Bebauung, eine nicht geklärte Erweiterung um 100 Quadratmeter Anfang des 20. Jahrhunderts, eine ominöse „Schenkung“ zurück an den Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen, ein Stück Land, das diesem eigentlich gehörte. Rätsel gibt auch das hinterste Stück des Friedhofs unterhalb des Schwimmbads auf, wo wohl einst der Eingang war. Eine Hecke trennt es ab, dahinter ein kleiner Urwald bis zum Zaun, unter dem möglicherweise noch Reste von Grabmalen zu finden sind. Aufklärung erwünscht, so Rieger, Integration in das Friedhofsgelände und dann vielleicht ein Gedenkstein.

!Das Buch „Der jüdische Friedhof in Oberursel“ ist in allen Oberurseler Buchhandlungen erhältlich. Herausgeberin ist die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) Hochtaunus, über die es auch zu bekommen ist. Es kostet 15 Euro, die ISBN-Nummer lautet: 978-3-00066440-3.

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