Oberursel (js). Was für Zeiten! Da wurden auch noch Zähne gezogen im Frisörsalon. Beim Frisör Angelus Ruppel jedenfalls, der auch als Bader eine Zulassung hatte und das nicht diskret im Hinterstübchen machen musste. Nicht unter dem Tisch und heimlich, da lagen nur die Kondome, die einst auch im Angebot waren, aber ein bisschen schamhaft versteckt abgelegt wurden. Musste ja nicht jeder sehen, wer hier die Familienplanung steuerte oder irgendwie was laufen hatte und solche Dinge brauchte. Zum Betäuben vorm Zähneziehen gab’s vorab einen Schnaps, das war beim Haareschneiden nicht nötig, die Herren und Damen Ruppel hatten dabei nach Aussagen von Generationen Kunden meist ein feines Händchen. Ausrutscher sind in Büchern nicht dokumentiert, die gab es nur mal beim Färben, aber das ist eine andere Geschichte.
150 Jahre Frisörsalon Ruppel bieten reichlich Raum für Geschichten und einen schönen Anlass, ein Fest zu feiern. Allein durch die besondere Konstellation, dass dabei Geschichten vom Ururopa, nämlich Angelus Ruppel, über Uropa Eberhard Ruppel, Opa Karl Ruppel und Papa Willi Ruppel bis zum aktuellen Chef Michael Ruppel durchgereicht werden. Es liegen eben nicht nur fünf Generationen zwischen Angelus und Michael, es liegen auch Zeitenwenden auf dem Weg von 1874 bis 2024, vom Beginn in der Vorstadt bis zum heutigen Tag am schrägen Marktplatz mit dem holprigen Pflaster vor der Tür. Das Haus ist seit 1910/1911 Familien- und Dienstsitz der Ruppels, verrät der heutige Hausherr im Talk mit Nachbar Klaus Winkler. Der perfekte Ort für das Jubiläumsfest eben, immer pulsiert auf die eine oder andere Weise das Leben, auf engem Raum, aber in familiärer Atmosphäre. Hier kann der Mensch noch Mensch sein, was hier gesprochen wird, bleibt auch zwischen den vier Wänden. „Hat man da eigentlich Schweigepflicht?“ wollte die Bürgermeisterin wissen, als sie zum Platzwechsel aufgerufen wurde.
Nun gut, meistens jedenfalls sind alle Gesprächsinhalte geschützt, nur beim Fest steht die Tür offen und gar ein Fenster ist geöffnet. Denn draußen stehen die „Special Guests“, die Männer vom Shanty-Chor, die aus dem Fest ein ganz besonderes Fest machen mit ihren kurzen Gesangseinlagen. Wie im Fernsehen bei „Inas Nacht“ im Late-Night-Talk des NDR. Da wird auf engstem Raum in der Hamburger Hafenkneipe „Schellfischposten“ geschnackt, hier wird eben im Friseursalon am scheppen Marktplatz in voller Bude geklönt. Und den Refrain bringen die Jungs mit dem Faible für die Waterkant perfekt und immer im richtigen Moment zu Gehör, auch wenn sie vom Urselbach stammen und nur so aussehen wie die Nordsee-Matrosen. „150 Jahre … Orschel is ne schöne Stadt, die den Salon Ruppel hat“.
Wie schafft man das, so ein kleines Handwerksunternehmen 150 Jahre am Laufen zu halten? Da hat Meister Michael Ruppel sofort die Antwort parat: „Die Männer haben immer die richtige Frau gefunden.“ Das ist mehr als Applaus, ein fröhliches Lachen und einen Tusch wert. Die Ruppel-Männer haben einfach immer Glück gehabt. An Michael und seiner Petra ist das noch empirisch nachweisbar, seit Jahrzehnten sind sie das Team an den Frisiertischen, und, das ist wichtig, seit ungefähr 30 Jahren unterstützt die Kollegin Nina sie immer wieder im Dienst an der Schere, mit Bürste, Kamm und was man sonst noch so braucht für eine schöne Frisur.
Bei der Talk-Runde mit Moderator Klaus Winkler im vollbesetzten Salon muss natürlich Petra Ruppel zuerst auf den heißen Stuhl, bestätigt die wilden Zahlen, die ihr Mann mal so hopplahopp ausruft. Dass in den 150 Jahren bisher „ungefähr 525 834 Kunden und Kundinnen“ bearbeitet wurden, dass diese dabei etwa 40 Millionen oder doch sogar 40 Milliarden Haare gelassen haben. Was sie sich wünscht für den Jubiläumsabend? „Dass wir Spaß haben, alle gut essen und trinken. Keiner soll nüchtern nach Hause gehen.“ Klare Sache, Einsatz für die Shanty-Jungs. Wenn nach dem Talk mit Nachbar Klaus noch so weiter geschwätzt wurde wie dabei im lockeren Ton, dann dürfte Petra Ruppels Wunsch in Erfüllung gegangen sein, denn nach Petra und Frau Antje kamen noch Lydia, der älteste Lehrling aus den Jahren 1966 bis 1969, die immer noch einen eigenen kleinen Salon betreibt, dann Helga, die älteste Kundin seit über 50 Jahren, Außendienstpartnerin Theresa, der jüngste Kunde Lukas (4) und Eberhard Haag auf den Stuhl neben dem Frisierspiegel. 30 Jahre war Haag Geschäftsführer der Handwerkerschaft, nie konnte er einen Friseurbetrieb ehren, der schon seit 150 Jahren im Geschäft ist. Dass wohl Michael der letzte Frisör der Ruppel-Sippe sein wird, auch dies wird später mal zur Geschichte gehören. Sein Sohn sucht berufliche Erfüllung bei der Bundeswehr, die Tochter ist eher in der Werbung unterwegs als am Frisiertisch. Sie hat die T-Shirts zum Jubiläum kreiert, Schwarz mit goldener Schrift und goldener Schere, die aus der goldenen Zahl 150 wächst.