Das „Kalevala-Projekt“ zieht in die finnische Sommerresidenz

Der „Seafarer schwarz“ wird im Kalevalamuseum Juminkeko zu sehen sein. Foto: Harms

Oberursel (ow). Wenn bildende Künstler Koffer packen, wird aus dem Künstleratelier eine Schreinerwerkstatt. Seit einigen Wochen schon tüfteln Eberhard Müller-Fries und Anja Harms, wie sie ihre großformatigen Buch-skulpturen vorsichtig, aber platzsparend in Transportkisten zwängen, damit sie Anfang Juni auf große Ausstellungsreise nach Finnland aufbrechen können. Gleichzeitig arbeiten sie aber auch noch intensiv an den Radierungen für eine Buchskulptur, die den 18. Gesang des „Kalevala“ in Szene setzen wird. Die Zeit drängt, denn am 14. Juni wird ihre Ausstellung „Wind nun wiege mir den Segler“ im Kalevalamuseum Juminkeko eröffnet. Bis zum 27. September ist dann das „Kalevala-Projekt“ der Oberurseler bildenden Künstler im finnischen Kuhmo zu sehen.

Das finnische Nationalepos „Kalevala“ umkreist in 50 Gesängen das sagenumwobene Karelien, eine wilde, historische Landschaft im finnisch-russischen Grenzgebiet. Schon die Namen der Helden tönen lautmalerisch: Väinämöinen, Ilmarinen, Lemminkäinen, Louhi heißen sie, und diese Helden, diese Zauberer und Verführer, aber auch grandiosen Handwerker, haben wahrhaftig nicht nur Gutes im Sinn. Elias Lönnrot hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts, als es den finnischen Nationalstaat noch gar nicht gab, aufgemacht, um die alten Sagen den Sängern in ihren abgelegenen Dörfern abzulauschen und sie aufzuschreiben. So entstand das „Kalevala“, das den Finnen als identitäts- und nationalstiftend gilt, und dessen poetische Kraft immer wieder auch bildende Künstler fasziniert und inspiriert hat.

Anja Harms und Eberhard Müller-Fries lässt der Mythos schon seit Jahren nicht mehr los. Es muss wohl mit den kühnen Bildern zusammenhängen, die den menschlichen Willen, aber auch seine Ohnmacht angesichts einer überwältigenden, aber auch abweisenden Natur, eines Lebens zwischen unendlich viel Licht, aber auch tiefster Dunkelheit beschreiben. Schon lange arbeiten sie gemeinsam an ihrem „Kalevala-Projekt“, das sich immer weiter entwickelt und in den vergangenen Jahren bereits an vielen Orten Deutschlands, etwa im Klingspor-Museum Offenbach oder auch in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, gezeigt wurde.

Ausgangspunkt ihres künstlerischen Schaffens ist immer und war auch dieses Mal, als sie das „Kalevala“ für sich entdeckten, die Literatur, deren Sprach- und Klangbilder sie in eine moderne Formensprache übertragen. Da die Künstler sowohl von der Buchkunst als auch von der Bildhauerei kommen, arbeiten sie mit so unterschiedlichen Materialien wie Papier und Bütten, Typografie, Farbe und Holz. Feinste Drucktechnik wird mit raffinierter Holzbearbeitung kombiniert, und so gegensätzlich die Materialien auch sind, so unendlich viele Möglichkeiten eröffnen sie gleichzeitig im künstlerischen Prozess.

Schnell wurden auch die Finnen auf diese einmaligen Arbeiten, die sich zwischen Künstlerbuch und Buchskulptur, Radierung, Collage und Malerei bewegen, aufmerksam. Als Finnland im Herbst 2014 Gastland der Frankfurter Buchmesse war, wurden Anja Harms und Eberhard Müller-Fries eingeladen, Teile ihres „Kalevala-Projekts“ im finnischen Pavillon auf dem Buchmessengelände zu zeigen. 2017 waren anlässlich der 100-Jahr-Feier zur Unabhängigkeit Finnlands Künstlerbücher und Buchskulpturen der beiden in der Turku City Library zu sehen. Pünktlich zur Sonnenwende ziehen nun in diesem Jahr die Werke der Künstler in ihre Sommerresidenz ins Kalevalamuseum Juminkeko nach Kuhmo um. Mehr kann man nicht erreichen.

Die finnische Stadt Kuhmo liegt im Zentrum des historischen Kareliens, weit in den Tiefen Finnlands und nahe der russischen Grenze. Die Juminkeko Foundation hat hier 1999 von den international renommierten Architekten Mikko Heikkinen und Marko Komonen ein eigenes Kalevalamuseum errichten lassen. Ein wunderbarer Bau, der die Strukturen eines alten Holzhauses in ein modernes Kulturzentrum überführt hat. Dass Anja Harms und Eberhard Müller-Fries gebeten wurden, ausgerechnet hier, im karelischen Ursprungsland, ihr „Kalevala-Projekt“ zu zeigen, ist Ehre und Herausforderung zugleich. Wie werden wohl die finnischen Besucher auf die Aneignung und Interpretation ihres großen Mythos durch ausländische Künstler reagieren?

Anhand von Fotos und einem Museumsgrundriss haben die Oberurseler Künstler ein maßstabsgetreues Modell des Kalevalamuseums Juminkeko gebaut. Erst mit diesem Modell kann die Installation der Kunstobjekte gedanklich konzipiert werden. Denn nur, wenn die einzelnen Objekte im Raum miteinander kommunizieren, können sie eine Geschichte erzählen. Anja Harms und Eberhard Müller-Fries verstehen sich bestens auf diese Erzählkunst. Bereits in ihren bisherigen Ausstellungen haben sie gezeigt, wie man schiffsähnliche Hölzer und feuergeschwärzte Holznetze so aufhängt, dass die Anziehungskraft der Erde aufgehoben scheint. Wie sich schwebende Künstlerbücher durchblättern und mannshohe Buchskulpturen umwandern lassen. Wie sich ein Ausstellungsraum in einen Entdeckungsraum verwandelt, damit sich die Poesie des „Kalevalas“ im Auge des Betrachters entfalten kann. Das klingt alles sehr kompliziert – und ist es auch!

Noch laufen die Vorbereitungen für die lange Fahrt gen Norden auf Hochtouren. Noch wird im Holzatelier an den Transportkisten gehobelt, und im Druckatelier trocknen die Radierungen. Noch aber erlauben Atelierbesuche auch einen einmaligen Einblick in die Welt des „Kalevala-Projekts“.

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