Von Kassel auf dem Hippie-Trail nach Kalkutta

Dirk Streitenfeld blättert im Fotobuch über seine Reise, die er als 68er-Kunststudent mit zwei Kommilitonen auf dem Hippie-Trail nach Nordindien unternommen hat. Foto: fch

Oberursel (fch). Mit dem Bulli in die Welt aufgebrochen sind 1970 Dirk Streitenfeld, Erika Mignon-Jobel und Hans „Juchan“ Reinard. Vor 50 Jahren bestiegen die drei abenteuerlustigen Kunststudenten in Kassel einen „fast schrottreifen“ VW-Bus. Ihr Ziel lag 21 000 Kilometer entfernt in Kalkutta. Mit dabei hatte das Trio mehrere Kleinbild- und Mittelformat-Kameras und viele, viele Filme, vor allem in Schwarz-Weiß.

„Anders als die meisten anderen Indien-Fahrer suchten wir nicht eine neue spirituelle Heimat und auch keinen leichten Zugang zu Drogen. Wir waren an Bildern interessiert, die von einem anderen, vielleicht besseren Leben handelten. Es waren nicht Armuts-Bilder, auf die wir aus waren. Wir suchten nach Beweisen für ein Glück in Bescheidenheit“, blickt Dirk Streitenfeld zurück. Viele Reisende auf dem Hippie-Trail wurden durch Ideen der Selbstfindung, Sinnsuche und Kommunikation mit anderen Völkern getrieben. „Das Geld für den Bus, das fotografische Equipment und die Filme, Sprit und Reisekosten hatten wir uns in Studentenjobs verdient“, so Streitenfeld.

Mehr als fünf Jahrzehnte später sichtete der heute in Bommersheim lebende Grafik-Designer und Künstler, die rund 5000 Negative umfassende Fotoausbeute des Trios. Eine Auswahl von 350 Schwarz-Weiß-Motiven veröffentlicht Dirk Streitenfeld jetzt in seinem im Selbstverlag herausgegebenen Fotobuch „Indien-Trip vor 50 Jahren“. Ergänzt wird die Buchpräsentation durch eine bis zum 18. Februar zu sehende Ausstellung mit 80 Schwarz-Weiß-Fotografien in den Räumen des Deutschen Werkbunds Hessen in Frankfurt.

Viereinhalb Monate lang waren die drei Studenten vor einem halben Jahrhundert auf der Balkan-Route des Hippie-Trails unterwegs. „Angetrieben wurden wir aus einer Mischung von Abenteuerlust und Fernweh.“ Beflügelt vom Zeitgeist, der Aufbruchstimmung der 68er-Generation, dem Protest gegen das Establishment und Kritik an der Elterngeneration, wollte das Trio zudem „möglichst viel Entfernung zwischen den Einschränkungen in der Heimat und uns legen“.

Bereit zu „Grenzüberschreitungen“

In Kassel sei das Leben nicht gerade übergeschäumt. „Wir fühlten uns gelegentlich regelrecht ruhiggestellt.“ Zudem wollten die Studenten „das behütete bürgerliche Leben, dem wir abstammten, nicht mehr auf die gewohnte Art weiterführen. Die Glaubwürdigkeitskrise im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Nazi-Zeit führte zu Fragestellungen, für die wir Antworten suchten und kaum fanden. Wenn schon die entzweite Familie sie nicht geben konnte, dann könnte ein Blick in die Lebensformen und -entwürfe anderer Ländern helfen. Das Prinzip der Grenzüberschreitung, also der bewusste Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen, führte logischerweise hin zu dem Gedanken, auch geografische Grenzüberschreitungen zu wagen.“

Gesagt, getan. „Viele Leute machten sich auf, um den Hippie-Trail nach Indien zu erkunden.“ Gereist wurde mit VW- oder Fernbussen, Autos oder der Bahn. „Für uns kam nur eine gemeinsame Fahrt in Frage.“ Der Hippie-Tourismus in seiner seriösen Fassung bewies anschaulich, was alles geht, wenn man es bloß wollte. Von Kassel ging es über München, Salzburg, Belgrad, Istanbul und Ankara durch den Iran, Afghanistan und Pakistan bis nach Indien. „Für uns begann die Reise, als wir die afghanische Grenze überquerten“, erinnert sich der gebürtige Bad Hersfelder. „Da begann für mich die Fremde, die eigentliche Indienfahrt.“ Es sei sehr warm gewesen, die Leute waren auf Kamelen oder mit Kamelen unterwegs. „Sie waren sehr distanziert und beeindruckend stolz. Es war ein totaler Bruch zwischen den kernigen Afghanen und den hochkultivierten Iranern.“

„Hippie, Hippie bye-bye“

In Kabul in Afghanistan waren alle Frauen total verschleiert, es gab keine Läden, alles spielte sich im Freien ab. „Kabul vermittelte einen ländlichen Eindruck. Dagegen trafen wir in Pakistan auf eine urbane, nach westlichen Maßstäben kultivierte Gesellschaft. Die Leute waren offener, weniger reserviert, die Frauen nicht verschleiert und alle lächelten uns an.“ In den Augen vieler Menschen waren die drei mittellosen Studenten mit ihrem alten VW-Bus stinkreich. „Dabei lebten wir auf der Fahrt bescheiden und führen als Studenten zu Hause ein einfaches Leben.“

In kleinen Dörfern waren „die drei großen, weißen Leute“ zudem oft eine kleine Sensation, wurden staunend umringt. In Indien riefen ihnen die Kinder „Hippie, Hippie bye-bye“ entgegen. Diese Parole hatte die Regierung gegen den „Massentourismus“ der Hippies ausgegeben. Die Kinder interpretierten ihn falsch.“ Die Studenten erkannten schnell, dass ihr Schulenglisch bei weitem nicht ausreichte. „Wir waren naiv und hatten großes Glück. Wir sind nicht krank geworden, hatten keinen Autounfall, wurden nicht ausgeraubt.“

Viele, die damals auf einer Route des legendären Hippie-Trails unterwegs waren, hatten meist keine Fotos gemacht. „Wer in dem Buch „Indien-Trip vor 50 Jahren“ blättert, wird das verlorene Paradies der Fernreisenden wiederentdecken.“ Der Hippie Trail ist längst Geschichte. Die Route entlang der alten Seidenstraße, die so viele junge Erwachsene einst prägte, konnte bereits Ende der 1970er-Jahre nicht mehr bereist werden. Die Route wurde unpassierbar, als es 1979 zur Islamischen Revolution im Iran und zum Einfall der Sowjetunion in Afghanistan kam.

!Informationen zur Ausstellung und zum Buch „Indien Trip vor 50 Jahren – 68er-Kunststudenten bereisen Nordindien auf der Suche nach Bildern und sich selbst“, 333 Seiten, 46 Euro, gibt es im Internet unter www.dirk-streitenfeld.de.

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