Der letzte Wodka bricht den Willen

Erinnerung an den Morgen danach in aller Herrgottsfrühe, der letzte Wodka war da längst getrunken, die Flasche ein Denkmal für die Ewigkeit. Foto: js

Oberursel (js). Wie viel Hessentag hält der Mensch aus? Ist das komplette Programm eines Tages überhaupt zu schaffen oder hilft nur gnadenlose Selektion? Nach einer Woche Trubel und vielen verpassten Gelegenheiten ist Entscheidungskraft gefragt. Ein Selbstversuch in 17 Stunden zwischen Bundeswehr und Kinderland, russischen Trachten und Orgelträumen.

Der letzte Wodka mit den Russen bricht die Willenskraft. Es ist schon weit nach Mitternacht in Oberursel, der Mond scheint milchig auf die seltsame Szenerie im Wiesengrund, wo tagsüber Tausende der „Natur auf der Spur“ sind. Er wird jetzt „Lomonossow-Park“ heißen, zu Ehren der Partnerstadt. Das muss mit reichlich Wodka begossen werden, diese Sprache versteht jeder. Damen in russischer Tracht, kaum erkennbar im Dunkel der Nacht, singen und tanzen den Klassiker Kalinka, der Bürgermeister lobt die deutsch-russische Freundschaft, Gläser klingen, ein langer „Hessen-Tag“ geht zu Ende und lässt das Bewusstsein ein wenig fiebern.

Erstaunlich, wie viel Hessentag ein Mensch ertragen kann, ohne völlig durchzudrehen im Wirbel der Massen und zwischen den 1093 Programmangeboten, im Wabern der Gerüche und Phonstärken zwischen Bundeswehr und Kinderland. Das erste Gebot um 8.37 Uhr klingt gut: „Am Anfang waren Himmel und Erde. Den ganzen Rest haben wir gemacht“, sagen die Handwerker, die in der Hochtaunus-Berufsschule und auf deren Hof für sich werben. Das passt zum Start in den Tag, die Stadt erwacht langsam. Schnell eine Münze mit dem Hessentag-Paar Charmaine und Christian eigenhändig gestanzt und weiter zum Sporttag mit hunderten Schulklassen auf der Tartanbahn nebenan.

9.07 Uhr, Sternmarsch mit den Grundschülern zum Auftritt auf dem Marktplatz, auf dem Weg die Akkreditierung für „Ich & Ich“ am frühen Abend abholen, ein Espresso im Vorbeigehen, kurzes Gespräch mit blauen Engeln mit weißen Flügeln, die den Weg zum Himmel weisen. Am Turm der St.-Ursula-Kirche schweben sie scheinbar hinauf, gesichert durch ein Seil, soll der Kletterer die Auferstehung vorfühlen können. Im Polizei-Bistro hatten wir schon die pädagogische Verkehrspuppenbühne angeschaut und vor dem Zelt den Wasserwerfer Modell 9000 hastig bestaunt. Und weiter, atemlos durch den Tag, so viel zu sehen, so viel zu staunen.

Auf der Marktplatz-Bühne wechseln die singenden Protagonisten zwischen 10.27 und 11.19 Uhr im Fünf-Minuten-Abstand. Im Vortaunusmuseum nebenan ist es trotz Rekordbesuch an den Hessen-Tagen um diese Zeit ruhig. Für die Ausstellung zur Industriegeschichte muss ein kurzer Blick reichen, wir wollen noch sehen, wie die Jugendbauhütte Romrod in der Altstadt am Fuß der St.-Ursula-Kirche die Gefache eines etwa 300 Jahre alten Fachwerkhauses mit Lehm und Weidenruten verfüllt. Die Straße der Bildung bleibt um 11.37 Uhr rechts liegen, wegen der „Orgelträume“, die von der Frau mit Namen Susanne in der Christuskirche inszeniert werden. Eine Oase aus Licht und schönen Klängen, die trotz brechend voller „Traumkirche“ guttut. Entspannt auch die Atmosphäre im Künstler-Quartier hinter der Kirche, das Kettensägen-Gedröhn der Holzbildhauer im Wettstreit ändert das nicht.

Schneller mit dem Segway

Auf dem Natur-auf-der-Spur-Gelände fährt das Hessentag-Paar um 13.11 Uhr mit seinen Segways vor, begleitet von einem Fernsehteam. Clever, so kommt man schneller voran, kann noch mehr abhaken. Schülerscouts bieten freundlich eine Führung an, doch eigentlich ist es nach fünf Stunden auf Tour Zeit für eine Pilzpfanne mit Kräuterquark und rustikalem Brot im grünen Restaurant mit Rollrasen als Fußboden. Nebenan tobt der Dschungel, Vogelgezwitscher und Gezwitscher einer flotten Damenrunde aus Stadtallendorf, die mal gucken will, wie Oberursel den Hessentag hinkriegt, machen angenehm schläfrig.

Keine Zeit für Pausen, im Schulhof ein paar Schritte weiter ist die Diensthundevorführung der Bundespolizei zu sehen und um 15 Uhr unbedingt die Volkstanzgruppe Groß-Umstadt, die im Trachtenland neben dem Rathaus auftritt. Wegen der nahezu gleichzeitigen russischen Clownshow im Internationalen Dorf bleiben dafür nur Minuten, nicht einmal die Hälfte des täglichen Angebots konnten wir bisher wahrnehmen. Der Badesalzer Henni Nachtsheim und sein Eintracht-Tagebuch müssen genauso gestrichen werden wie der Fachvortrag für Menschen mit Aphasie und das Seniorentheater „Silberdisteln“.

Die Tochter mahnt zum rechtzeitigen Auftreten bei „Ich & Ich“ ganz draußen im Festzelt, nah an der Pampa. Ein weiter Weg und mit Vorgruppe eine Stunde Wartezeit bei Sauna-Temperaturen. Um 22.19 Uhr ist alles gesagt. Wir wissen, dass wir vom selben Stern sind und noch einiges mehr über die Geschichte von Mann und Frau. Und vor allem, wie sich Beine und Bauch nach nun schon 14 Stunden Hessentag anfühlen. Ein Segen der Regen auf den Wegen zurück ins Getümmel nach dem Treibhaus im Zelt. Den Strand zu Füßen der Stadtmauer in der Chillzone auf der Bleiche hat er unterspült, keiner mehr da um 23.03 Uhr.

Am Marktplatz ist noch Soul-Time auf der Bühne, die Zeit bis Mitternacht wird nicht lang. Noch einmal liegt die Traumkirche in der Christuskirche am Wegesrand, die „NachtTräume“ mit Pfarrerin Petra Schwermann und ihr persönlicher Händedruck für jeden Besucher zur Verabschiedung in die wieder trockene Nacht stärken für den letzten Akt. Nur Mini-Fackeln und der Mond sorgen für ein wenig Licht an der Skulptur „Struck by Moonlight“ des russischen Künstlers Nikolai Karlychanov aus der Partnerstadt im dunklen Wiesengrund, der jetzt „Lomonossow-Park“ heißt. Der Wodka-Beauftragte schenkt noch einmal ein, bevor sich die illustre Gesellschaft in der Nacht verliert. Es ist ein 1.17 Uhr, in der Stadt fahren die ersten Müllwagen vor.



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