Ein polnisches Mädchen kämpft gegen das Vergessen

Oberursel (ow). Die 1928 geborene Krystyna Kozak erlebte als zehnjähriges Mädchen den Einmarsch der deutschen Wehrmacht im September 1939 und die Schrecken der Besatzungszeit in Polen bis 1945. Als Augenzeugin berichtete sie viele Jahre später davon an mehreren Schulen in Deutschland.

Krystyna Kozak war damals, wie sie selbst sagt, „ein ganz gewöhnliches polnisches Mädchen“. Und diesen Titel trägt auch ihr jetzt erschienener Augenzeugenbericht, den der engagierte Religionslehrer Marc Fachinger herausgegeben hat, der lange Jahre auch an der Hochtaunusschule tätig war und der Krystyna Kozak bereits seit ihrem ersten Deutschlandbesuch 2002 kennt. Damals war Fachinger Pastoralreferent in Königstein und holte die zu dieser Zeit schon betagte Seniorin erstmalig in den Taunus. Als er als Lehrer an die Hochtaunusschule wechselte, lud er sie 2008 ein. Kozak kam als Zeitzeugin, um vor zahlreichen Schülern verschiedener Schulformen und Klassenstufen über die dunkelsten Tage ihre Jugend zu sprechen. Und es ist Schreckliches, kaum Vorstellbares, was sie zu berichten hat: Als Kind erlebte sie den Einmarsch der Deutschen in ihrer Heimatstadt Grudziadz (Graudenz) im September 1939. Über Nacht veränderte sich das Leben von Familie Kozak, und geradezu schlaglichtartig zeigt sich dies am Verhalten einer deutschstämmigen Nachbarsfamilie, mit der sie bis dahin befreundet war: „Wir hatten viel miteinander erlebt, wir Kinder spielten miteinander, doch über Nacht waren wir plötzlich der Feind“, so Kozak.

Es geht Zuhörern wie Lesern unter die Haut, wenn die Seniorin berichtet, wie der Nachbarssohn Paul, der – einige Jahre älter als sie selbst – mit den polnischen Nachbarskindern groß geworden ist, eines Tages in SS-Uniform auftaucht und offenbar ganz beiläufig und wie selbstverständlich berichtet, dass er „den ganzen Tag schwer gearbeitet und Polen erschossen“ habe. Die Eltern von Frau Kozak werden, wie fast alle Einwohner des Ortes, zu Augenzeugen einer willkürlichen Erschießung von zehn polnischen Geiseln auf dem Marktplatz der Stadt. Das Buch ist voller solcher Passagen, die einem den Atem stocken lassen. Das Schlimmste für sie und ihre Familie kommt mit der Internierung im Konzentrationslager Potulice bei Bydgoszcz, dem damaligen Bromberg im Sommer 1944, als die Autorin gerade 15 Jahre alt ist. Die Deportierten mussten sich bei der Ankunft im Lager nackt ausziehen und sich die Haare scheren lassen. Der Lageralltag war der blanke Horror: Schläge, Demütigungen, härteste Arbeit, Todesangst und dauernde Ungewissheit, ob man selbst und die Familie den nächsten Tag noch erleben werden, bestimmten sieben Monate lang ihr Dasein. Diese Zeit prägte auch ihr gesamtes Leben bis heute: „Wenn ich das erzähle, dann sehe ich wieder alles vor mir, das Lager, das Tor, die SS-Männer. Dann überlebe ich das alles von Neuem“, sagt sie.

Lange wollte sie nicht darüber sprechen, was ihr und ihrer Familie passiert ist, aber im Laufe der Jahre wuchs der immer drängender werdende Impuls, das weiterzugeben, was nicht in Vergessenheit geraten darf, und was nur Augenzeugen authentisch weitergeben können, keine Bücher, keine Filme: „Solange es geht, möchte ich meine Geschichte an junge Menschen weitergeben“, sagt sie. Und solange es ihre Gesundheit erlaubte, ist sie zwischen 2002 und 2012 mehrfach auf Einladung des Maximilian Kolbe-Werks nach Deutschland gekommen, um an Schulen zu berichten: „Vergeben habe ich bereits, was geschehen ist, aber vergessen werden darf es nicht“.

Man kann sich unschwer vorstellen, dass ihr dies am Anfang nicht leicht gefallen ist: „Ich war damals sehr ängstlich und misstrauisch und wollte am liebsten gar nicht in das Land der Täter von damals fahren“, erinnert sie sich. „Aber dann habe ich gedacht, dass es für die jungen Menschen, die ja keine Schuld an all dem tragen, wichtig ist, zu erfahren, was ihre Vorfahren getan haben“.

Und sie erreicht die Jugendlichen durch ihre menschliche Offenheit und Ehrlichkeit sowie direkte schnörkellose Ansprache: „Ich möchte nicht euer Mitleid erregen, sondern euch erzählen, was ich erlebt habe und wohin Hass die Menschen führen kann.“ So beginnt sie, und damit ist das Eis gebrochen, und es entstehen Nähe und Sympathie, wovon nicht zuletzt auch die Fotos künden, die sie im Gespräch mit den deutschen Jugendlichen zeigt. Diese Begegnungen haben ihr auch, wie sie selbst betont, bei der Bewältigung ihrer schrecklichen Vergangenheit geholfen: „Es ist, als ob sie mir den Ballast auf meiner Seele abnehmen“. Vor unzähligen jungen Menschen hat sie über die Jahre gesprochen, und kaum einer wird diese Begegnungen je vergessen.

Marc Fachinger arbeitet mittlerweile als Berufsschulreferent im Bistum Limburg. Aber den Kontakt zu der menschlich ungemein beeindruckenden und sympathischen Zeitzeugin Kozak, die aus gesundheitlichen Gründen schon seit einigen Jahren nicht mehr nach Deutschland reisen kann, halten er und andere Kollegen der Hochtaunusschule bis heute aufrecht.

Zeitzeugengespräche mit Schülern sind ein unverzichtbares und unersetzliches Moment eines modernen, schülerorientierten und lebendigen Schulunterrichtes. Wenn Menschen aus erster Hand berichten, „wie es gewesen ist“, berührt und packt es Schüler viel mehr als Schulbuchtexte dies vermögen. Dies belegen zahlreiche mündliche wie schriftliche Danksagungen von Schülern, die davon künden, wie viel diese Gespräche ihnen bedeuten.

Da sich in diesem Jahr die Befreiung der Konzentrationslager zum 75. Mal jährt, ist absehbar, dass es Zeitzeugen schon in mittelfristiger Zukunft nicht mehr geben wird. Umso wichtiger ist es, ihre Stimme vor dem Vergessen zu bewahren und das, was sie den jungen Generationen weiterzugeben haben, in gedruckter – oder zunehmend auch elektronischer – Form zu sichern. Und genau das hat Fachinger mit dem von ihm herausgegebenen, von der Zeitzeugin freigegebenen Text ihres Zeitzeugenberichts von 2010 an der Hochtaunusschule getan. Unterstützt wurde diese Publikation vom Maximilian Kolbe-Werk.

Krystyna Kozak spricht 2008 an der Hochtaunusschule über ihr Leben als Mädchen in Polen während der deutschen Besatzung bis 1945. Foto: Hochtaunusschule



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