„Soziale Spreizung“ im Hochtaunus stärker als anderswo

Astrid Fenner diskutiert mit Tobias Krohmer über die soziale Realität im Hochtaunus. Foto: fch

Oberursel (fch). Am Sonntag endete das zum 14. Mal durchgeführte Lesefest „Frankfurt liest ein Buch“. Erneut dabei war auch in diesem Jahr Oberursel auf Initiative des gemeinnützigen Kulturvereins „LiteraTouren“. Eingeladen hatte der Verein in Kooperation mit der „Portstrasse“ zu „Gespräch und Lesung“ zum Thema „Armut und Chancengleichheit – Anspruch und Realität“. Anknüpfend an den 2020 bei Suhrkamp erschienen Debütroman von Deniz Ohde „Streulicht“, aus dem die künstlerische Sprecherin Birgitta Assheuer ausgewählte Passagen vorlas, fand ein Gespräch zwischen Astrid Fenner mit Dr. Tobias Krohmer, dem Referenten für gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Dekanat Hochtaunus (EKHN Hochtaunus), statt.

Mit ihrer Ich-Erzählerin nimmt die Autorin Deniz Ohde in ihrem vor drei Jahren mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet Bildungsroman ihre Leser mit in die Enge einer Frankfurter Arbeiterfamilie nach Sindlingen in ein von Hoffnungslosigkeit geprägtes Milieu. Der Vater arbeitete 40 Jahre lang von seinem 16. Lebensjahr an in derselben Firma im Industriepark Höchst. Er beizte tagein, tagaus 40 Stunden pro Woche Aluminiumbleche in einer Lauge. „Das ganze Leben meines Vaters war eine einzige Ersatzhandlung. Wünsche gab es nicht. Das war eine Sache der anderen.“

Der Vater wie auch der Großvater sprachen kaum, wollten keine Veränderungen. Die Ich-Erzählerin denkt an ihre türkische Mutter, die an der Enge der westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte. Und die ihre Tochter beim trinkenden Vater zurücklässt. Sie erzählt von ihrem frühen Schulabbruch und von der Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen. Sie berichtet einfühlsam von der Scham und Angst, nicht zu bestehen und als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden. Der Roman schildert eine realistische Geschichte, zeigt wie Ausgrenzung und Abwertung mit Worten und Taten funktionieren. Da wird von der Lehrerin wie auch der Schulkrankenschwester Gewalt verharmlost, die Schuld dem Opfer gegeben und nicht nach dem Täter gesucht, um ihn zu bestrafen. Die Ich-Erzählerin berichtet von Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit und dem Versuch, sich von der verinnerlichten Abwertung zu befreien. Auch die besten Freundinnen Sophia und Pikka sind ihr keine Hilfe. Die Ich-Erzählerin kehrt nach erfolgreichem Besuch der Abendschule und des Gymnasiums zurück nach Sindlingen, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Nach dem Abitur studiert sie, um dann aus Ratlosigkeit gepaart mit mangelndem Selbstvertrauen eine Putzstelle anzunehmen.

Im Gespräch erörterte Astrid Fenner mit Dr. Tobias Krohmer Fragen wie „Was bedeutet Armut im Hochtaunuskreis?“, „Wie hat sich die Armut in der Region entwickelt?“, „Kann Bildung heute Chancengleichheit herstellen, auch unabhängig von der Herkunft?“, „Welche Rolle spielen Vorurteile auf allen Seiten?“, „Welche drängenden Herausforderungen bestehen?“ Die soziale Spreizung sei im Hochtaunuskreis stärker als woanders, sagt Dr. Krohmer. Kunden der Tafel seien 630 Haushalte mit 1700 Personen. Zu den Tafelkunden gehörten Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende mit Kindern, Rentner mit geringen Bezügen, Menschen mit Erkrankungen.

Wesentlich zum Bildungserfolg beitragen würden die Eltern, auch spiele die soziale Herkunft immer noch trotz aller Unterstützungsmöglichkeiten eine Rolle beim Bildungsabschluss. Chancengleichheit für alle stehe oft nur auf dem Papier, da eine Individualförderung durch das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder aus prekären Verhältnissen mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden sei. Wichtig sei es zudem, Stereotypen zu hinterfragen, um Alltagsrassismus zu begegnen.

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