Naturschutztipp

Riedstadt. Flatternde Bänder und Ketten durchziehen den Himmel über den weiten Wiesen und Äckern im südhessischen Ried. Wer bei einem Winterspaziergang genau hinhört, vernimmt ein vielstimmiges Schnattern: Es sind Gänse aus dem hohen Norden, die hier den Winter verbringen. Um die genaue Zahl der Wintergäste festzustellen, führte die Arbeitsgruppe „Nordische Gänse“ des NABU Kreisverbands Groß-Gerau von Anfang Dezember bis Ende Februar fünf Synchronzählungen durch. „Die Methode ist ganz einfach. Jeweils eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang suchten die NABU-Vogelkundler ihr Gebiet eine Stunde lang ab und erfassten synchron alle dort gesichteten Wildgänse“, erklärt AG-Leiter Frank Philip Gröhl aus Riedstadt. Dazu wurde das Hauptüberwinterungsgebiet der Gänse im südhessischen Ried in vier Teilgebiete aufgeteilt. Die Ergebnisse lassen sich sehen: Die Höchstzahlen der überwinternden Gänse lagen um den Jahreswechsel herum bei 6.416 Tundra-Saatgänsen, 1.026 Blässgänsen, 1.049 Graugänsen, 143 Nilgänsen und 133 Kanadagänsen. Dazu wurden noch 3 Singschwäne und 392 Höckerschwäne gezählt. Ein Vergleich der Zählungen mit früheren Jahren zeigt, dass durch die mildere Witterung auch in diesem Winter weniger Gänse ins Ried gekommen sind. „In guten Jahren haben wir schon mal bis zu 10.000 überwinternde Gänse beobachtet“, so Gröhl. Die Ergebnisse wurden im Online-Netzwerk für Naturbeobachter „NABU|naturgucker“ dokumentiert und ausgewertet.

Als problematisch sehen die NABU-Ornithologen den immer weiter steigenden Freizeitdruck im gesamten Zählgebiet zwischen Riedstadt und Trebur an. „Für die Gänse bedeuten Jogger, Radfahrer sowie Spaziergänger mit und ohne Hund großen Stress. Wenn die Menschen ihnen zu nahe kommen, geraten sie in Panik, fliegen auf und verbrauchen dabei viel Energie“, erläutert der NABU-Ornithologe und stellv. Landesvorsitzende Bernd Petri aus Groß-Gerau. Außerhalb der Naturschutzgebiete gebe es derzeit keine Koordination von Schutzmaßnahmen, kein Wege-Management und keine Freizeitlenkung. „Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf“, so Petri. In der Vergangenheit hatte es auch immer wieder Konflikte zwischen Naturschutz und Landwirtschaft gegeben. Durch individuelle Absprachen und einzelne Kompensationen konnten sich die Gemüter mittlerweile beruhigen und wirtschaftliche Schäden durch nahrungssuchende Gänse verhindert werden. In diesem Winter gab es erstmals seit langer Zeit eine Änderung des Rastverhaltens vor Ort. Tausende Gänse flogen zum Übernachten wieder in die nördlichen Gewanne bei Riedstadt-Erfelden und teilweise auch an den Kühkopf. Zuletzt war dies vor etwa 15 Jahren der Fall. Als wichtigste Ursache sieht der Vogelexperte Frank Gröhl die Aufstellung von blauen und weißen Plastiktüten auf Ständern als Vogelscheuchen auf den Äckern im Bereich rund um die traditionellen Rastflächen nahe der Kiesgrube Renneisen-Wille bei Riedstadt-Leeheim an. „Um Naturschutz, Erholungsnutzung und Landwirtschaft künftig besser in Einklang zu bringen, sollte eine neutrale Institution einberufen werden, die optimierte Lösungen für die Zukunft erarbeitet“, so Gröhl. Der gerade etablierte Landschaftspflegeverband könnte nach Ansicht des NABU eine solche Funktion gut erfüllen.

Hintergrundinformationen

In jedem Jahr kommen ab Ende Oktober tausende Wildgänse zum Überwintern in die offenen Landschaften des Hessischen Rieds. Es sind Tundra-Saatgänse und Blässgänse, die in unserer milden Region entlang des Flusslaufs die westliche Grenze ihrer Überwinterungsgebiete aufsuchen. Nur in sehr harten Wintern ziehen diese nordischen Gänse noch weiter nach Westen, bis an die Atlantikküste Frankreichs oder in die Mittelmeerregion. Das ist durch die Klimaerwärmung immer seltener der Fall. Selbst die Anzahl von Überwinterern am Rhein lässt in milden Wintern mittlerweile nach. Vor etwa zwanzig Jahren gab es noch Winterrastzahlen von bis zu 10.000 Individuen, heute sind es in der Regel nicht mehr als sechs- bis siebentausend. Die Brutgebiete der Blässgans liegen überwiegend in Nordskandinavien, die der Tundra-Saatgans meist weiter östlich, von Nordskandinavien bis weit nach Sibirien.

Es gibt noch weitere Gänsearten, die zwischen den zahlenmäßig dominierenden Arten hin und wieder als Einzelvögel auftauchen: So die Weißwangen- bzw. Nonnengans, die im Ostseeraum brütet und überwiegend an westlichen Meeresküsten überwintert, sowie die Kurzschnabelgans, die in der Arktis zu Hause ist und vereinzelt in Mitteleuropa überwintert, in Deutschland jedoch lokal auch ganzjährig anzutreffen ist. Weitere Überwinterer sind die Zwerggans, die nur noch vereinzelt in Nordskandinavien und in der sibirischen Waldtundra brütet und sehr selten unter den überwinternden Gänseschwärmen auftaucht, sowie die seltene Rothalsgans. Sie brütet in der arktischen Tundra und überwintert normalerweise weiter östlich, z.B. im westlichen Schwarzmeerraum. Im Ried wurden allerdings auch schon Gefangenschafts-Flüchtlinge aus Zuchten festgestellt. Die überwinternden Gänse bleiben nicht ständig im gleichen Rastgebiet, sondern wandern auch immer wieder ein wenig an der Rheinlinie entlang südlich bis nach Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg. Auch wurden schon oft, durch milde Witterung bedingt, vorzeitige Abzüge von Schwärmen nach Nordosten (Sachsen, Sachsen-Anhalt) bemerkt. Bei späterer Abkühlung im Hochwinter kamen die Gänse jedoch wieder in die südhessischen Überwinterungsgebiete zurück.



X