„Aber viel lieber gehe ich persönlich hin“

Das größte Glück: ein neugeborenes Kind, auf dem Arm der Mutter geborgen. In Corona-Zeiten steht aber so manche junge Familie unter großer Anspannung. Foto: a.ber

Hochtaunus (a.ber). Wenn Katja Lindner de Alvarez derzeit ihre Hausbesuche macht, zieht sie einen Mundschutz an und streift sich oft auch sterile Handschuhe über. Die freie Hebamme, die in Bad Homburg, Oberursel und Friedrichsdorf die Nachsorge für Mütter und Säuglinge zu Hause nach der Geburt macht, fragt auch jetzt oft vorher, ob die Familie wegen der Corona-Pandemie einen Teil der Nachsorgetermine online wünscht. „Aber lieber gehe ich persönlich hin“, sagt die 46 Jahre alte verheiratete Mutter dreier Kinder.

Und das hat seinen Grund: Katja Lindner de Alvarez hatte schon im ersten Lockdown wegen Covid-19 festgestellt, wie wichtig es ist, von Angesicht zu Angesicht mit den Müttern zu sprechen. Abgesehen davon, dass sie Nachsorge-Details wie das Abtasten von Brust und Gebärmutter der Frau sowie die Behandlung von Nabel und Windelbereich des Säuglings nur im direkten Kontakt machen kann, hält sie es auch für dringend geboten, sich einen Eindruck von der familiären und häuslichen Situation der jungen Familien zu verschaffen, um helfen zu können. Denn so manche Familie mit einem Neugeborenen gerät durch die Kontaktbeschränkungen, mangelnde Hilfe durch Familie und Freunde und auch durch Geschwisterkinder, die Kindergarten und Schule nicht oder nur sporadisch besuchen können, aus dem Lot.

Durch die Verlängerung und Ausweitung der Corona-Maßnahmen entstehe gerade für erstgebärende Mütter die Gefahr, eine Depression zu entwickeln, sagt Katja Lindner de Alvarez. „Sie sind zu Hause mit dem Säugling über Wochen und Monate abgeschottet ohne die Möglichkeit des persönlichen Kontakts zu anderen jungen Müttern oder Freundinnen, ohne Rückbildungs-Gymnastik-Kurse, Säuglingsschwimmen und ähnliche Aktivitäten. So können sich zunehmend Wochenbett-Depressionen und ein großes Einsamkeits-Gefühl entwickeln.“ Doch nicht nur diese jungen Mütter haben es schwer: „Im ersten Lockdown war ich verzweifelt, wie viele Kinder ich entdeckte, die in problematischen Verhältnissen waren. Manche Geschwisterkinder von Neugeborenen saßen stundenlang vor dem Fernseher, waren zunehmend aggressiven Eltern ausgesetzt, einige wurden misshandelt. Manche Väter und Mütter waren durch die Situation total überfordert“, schildert die Hebamme ihre Eindrücke.

„Ich wollte ‚Hallo!‘ rufen und habe an Oberbürgermeister Alexander Hetjes und an Gesundheitsminister Jens Spahn geschrieben, denn wir Hebammen hätten Hilfe gebraucht. Aber Antworten habe ich nicht erhalten.“ Normalerweise sprechen freie Hebammen mit den Familien zu deren Entlastung auch über eine sinnvolle Alltagsgestaltung und Möglichkeiten, in Mutter-Kind-Angeboten außer Haus Kontakte zu knüpfen, geben Tipps für die Eingliederung mit einem Neugeborenen ins gesellschaftliche Leben. Doch diesem liebevollen Kümmern steht derzeit eine Mauer an Kontaktverboten und Einschränkungen gegenüber. In ihrer Not wandte sich die ebenso warmherzige wie resolute Katja Lindner de Alvarez an das hessische Fernsehen, das schließlich Ende Mai 2020 im ARD-Morgenmagazin unter dem Titel „Gewalt gegen Kinder“ ein Interview mit der Bad Homburger Hebamme sendete. „Erst fragte ich mich, ob ich in der Sendung mein Gesicht zeigen soll, aber dann habe ich entschieden: Ja, ich tue es, denn die Kinder, die misshandelt werden, können sich auch nicht wegdrehen.“ Nun aber spitze sich die Situation erneut zu, so Lindner de Alvarez.

Die in Jena aufgewachsene und am dortigen Uni-Klinikum ausgebildete Frau ist aus Erfahrung einiges gewohnt. Problematische Situationen schrecken sie nicht. Als 15-Jährige nahm Katja Lindner de Alvarez 1989 an kirchlichen Protesten gegen das DDR-Regime teil, „ja, ich habe Kerzen hochgehalten und mitdemonstriert“. Nach Abitur, Hebammen-Ausbildung und dem Umzug nach Bad Homburg im Jahr 2000 entschied sie sich einige Jahre später, als Hebamme in Armenvierteln Guatemalas zu arbeiten. Sie war neugierig, was man sich dort an Wissen abgucken und was man selbst den Menschen dort beibringen kann. „Da sind mir Frauen unter der Hand weggestorben an Kindbett-Fieber“, erinnert sie sich. Als sie 2006 nach Bad Homburg zurückkam, hatte sie eine Botschaft mit im Gepäck, nämlich „den Menschen hier zu sagen: Bleib als Schwangere und junge Mutter, bleibt als Familie doch mit den Füßen auf dem Boden und behaltet den Blick für das Wesentliche!“

Werdende Eltern hierzulande setzten meist voraus, dass sie eine gesunde Schwangerschaft erlebten und die Geburt 1A verlaufe – „da kümmern sich manche mehr um die passende Wandfarbe im Kinderzimmer und denken, alles läuft ja perfekt. Und wenn etwas nicht nach Plan geht, wird immer gleich ein Schuldiger gesucht. Aber vieles in der Natur läuft anders ab, und wir als Hebammen und Ärzte müssen sehen, wie wir reagieren und reparieren“, gibt sie zu bedenken. Und wenn im Wochenbett das Kind schreit, die Brust wehtut, man müde ist – „das ist das nackte, wahre Leben“. Trotz allem macht Katja Lindner de Alvarez ihr Beruf richtig Spaß: Der Kontakt zu vielen verschiedenen Menschen, durch den sie so viel lerne, das Erkennen medizinischer Notfälle und das Reagieren in brenzligen Situationen, und mit ihrem Wissen Menschen helfen zu können, auch durch liebevolles Mitgefühl. Resolut zu sein habe sie im Laufe der Jahre erst lernen müssen. „Klare Ansagen sind wichtig, zum Beispiel diese, dass junge unerfahrene Eltern nicht immer bei Problemen hundert Antworten googeln, sondern stattdessen das Kind erstmal in den Arm nehmen sollen – „vielleicht braucht es einfach deinen Geruch und dein Herz“. Junge Familien „ins wilde Leben mit Kind zu schubsen und sie ermutigen: Das könnt ihr schon!“, das sieht sie auch als ihre Aufgabe.

Katja Lindner de Alvarez, die neben ihrer freien Tätigkeit seit vielen Jahren auch einen Teilzeit-Job in der Geburtsstation der Hochtaunus-Kliniken wahrnimmt, wo sie die hervorragende Zusammenarbeit zwischen Hebammen und Ärzten schätzt, absolviert auch in Corona-Zeiten eine 50-Stunden-Woche. Es gibt zu wenige freie Hebammen im Hochtaunuskreis. Doch so mancher Glücksmoment entschädigt sie für ihre viele Arbeit, zum Beispiel dieser, als eine Frau, die in der Klinik ein totes Kind geboren hatte, ein gutes Jahr später dort einen gesunden Säugling zur Welt brachte. „Ich hatte sie gebeten, eine neue Schwangerschaft zu versuchen. Und diese Frau kam dann erneut in unsere Geburtsstation, trotz der schlimmen Erfahrung, weil sie uns Hebammen und Ärzte als Menschen erlebt hatte, die sie und ihren Mann damals bei dem traumatischen Ereignis gut betreut hatten. Das hat mich sehr beglückt. Es war ein Lichtblick in dieser dunklen Corona-Zeit.“

 

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