Irmgard Keun, Mascha Kaléko und die Ukraine

Schwalbach (sbw). Endlich, nach zwei coronabedingten Absagen, konnten Nina Hoger, Margaux Kier, Henning Brand und Torsten Krug im Bürgerhaus Schwalbach am 8. Mai ihre szenisch-musikalische Lesung „Nach Mitternacht“, eine Produktion des „Theater Anderwelten Wuppertal/Köln“, gestalten. „Es waren tief bewegende 90 Minuten, in denen das Ensemble uns in die Zeit der beiden herausragenden Autorinnen mitnahm: Erzählung, Lesung, Gesang und Musik wurden dramaturgisch von der ersten bis zur letzten Minute zu einer beeindruckenden, spannenden Collage zusammengefügt“, beschreibt Günter Pabst.

„Torsten Krug, als Erzähler, stellte nuanciert und farbenreich den geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang her. Am Flügel fing Henning Brand die Stimmung der Texte auf und traf mit seiner Auswahl der Stücke – Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach, eine Improvisation von Szymanowski sowie Soundeinspielungen – gekonnt die Atmosphäre. Es gelang ihm die Zuhörer in eine andere Zeit zu entführen.“

Unverwechselbar las Nina Hoger einfühlsam die Texte von Irmgard Keun und ließ sie lebendig werden. Margaux Kier als Diseuse und Sprecherin ließ Mascha Kaléko vor dem geistigen Auge entstehen. Die Lesung ist als eine Begegnung der beiden Frauen angelegt: So war das Gespräch der Keun mit Kaléko ganz lebendig, ihre gegenseitigen Berichte klangen so vertraut, als ob sie tatsächlich stattgefunden hätten. Dabei sind die beiden Frauen  im wirklichen Leben wohl nie aufeinandergetroffen. Es ist dem Autor Heiner Bontrup zu verdanken, dass sein erfundenes fiktives Szenario gut funktionierte.

Die Nazis verfemten ihre Romane als „Asphalt-Literatur“ und verbrannten sie. Irmgard Keun hat ihre Erfahrungen in Nazi-Deutschland in ihrem Roman verarbeitet. „Nach Mitternacht“ steht in diesem Jahr im Mittelpunkt der Reihe „Frankfurt liest ein Buch“. Schwalbach beteiligte sich mit seiner ganz besonderen Veranstaltung daran.

„Die Textpassagen aus den Romanen von Irmgard Keun und Gedichte von Mascha Kaléko zeigen uns nicht nur zwei ausdrucksstarke, emanzipierte Frauen in den sogenannten goldenen 20er-Jahren. Ihre literarisch verarbeiteten Erfahrungen von Flucht, Migration und Exil haben eine beklemmende Aktualität“, so Pabst.

Unter dem Eindruck von Putins abscheulichem Angriffskrieg gegen ein souveränes Land und unter Missachtung aller Menschenrechte haben die Veranstalter Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ)im Main-Taunus-Kreis und die Stadt Schwalbach zur Solidarität mit der Ukraine aufgerufen. Bürgermeister Alexander Immisch schlug in seinem Grußwort einen Bogen vom 8. Mai 1945, der das Ende war von nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, das Ende von Bombennächten und Todesmärschen, das Ende beispielloser Kriegsverbrechen und des Zivilisationsbruchs der Shoah, zur Situation in der Ukraine. „Wir sehen uns heute in Europa wieder mit Krieg, Zerstörung und Tod konfrontiert und die deutsche Geschichte fordert und verpflichtet uns, klar Stellung für die demokratischen Werte zu beziehen.“ Günter Pabst, Vorstandsmitglied der GCJZ, schilderte mit brüchiger Stimme, wie sich seine Einstellung als Kriegsdienstverweigerer und Friedensaktivist  zum Unterstützer von Waffenlieferungen in die Ukraine (und dem Aufruf „Die Sache der Ukraine ist auch unsere Sache“) gewandelt hat. Er berichtete über die bisherige finanzielle Unterstützung von kleinen Hilfsprojekten, und er würdigte die große lokale Hilfsbereitschaft in Schwalbach und die Arbeit der Flüchtlingshilfe und dem Verein Kindertaler, die den Frauen und Kindern versuchen ein neues Zuhause zu geben.

Zum 8. Mai rief das Bündnis „Main-Taunus-Kreis gegen rechts“, die GCJZ ist Mitglied, dazu auf, an den Stolpersteinen zum Gedenken eine Nelke niederzulegen. Symbolisch erinnerte im Bürgerhaus ein großer Nelkenstrauss mit einer Banderole in den ukrainischen Farben daran. So wurde die Lesung durch ein ukrainisches Volkslied, welches seit der Maidan-Bewegung zu einer Art Hymne in der Ukraine geworden ist: „Plyve kacha“ und einem aktuellen Lied der Pop-Gruppe Boombox eingerahmt. Beide Lieder trug Margaux Kier einfühlsam, virtuos begleitet von Henning Brand, mit wandlungsfähiger Stimme vor.  

Die mehr als 100 tief bewegten Zuhörer dankten dem Ensemble und den Veranstaltern mit langanhaltendem wiederholtem Beifall. Der Spendentopf war am Ende prompt mit Scheinen gefüllt. Vorerst sind 2105 Euro zusammengekommen. Der Betrag wird noch aufgestockt durch weitere Spenden der Künstler.

Die szenisch-musikalische Lesung „Nach Mitternacht“, eine Produktion des „Theater Anderwelten Wuppertal/Köln“, wird mit viel Applaus bedacht. Foto: Günter Pabst



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