Vom Bildungsort zur Unterkunft IG Bau nimmt Flüchtlinge auf

Normalerweise arbeitet Svitlana Linne in der Bilanzbuchhaltung der Gewerkschaft in Frankfurt-Heddernheim. Doch zurzeit fungiert sie in der Bildungsstätte als Dolmetscherin für die Flüchtlinge. Foto: HB

Steinbach (HB). Seit 30 Jahren befindet sich das Tagungs- und Bildungszentrum der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) an der Waldstraße. Dort sind Generationen von Betriebsräten geschult worden, doch vor einer Woche sind hier zum ersten Mal Flüchtlinge eingezogen. Es sind bislang mehr als 50 Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind, hier aufgenommen worden. Der Seminarbetrieb läuft derzeit auf „Sparflamme“. Auf vollen Touren dagegen läuft die Hilfe aus der Stadt. An der Pforte werden jede Menge Lebensmittel, Hygieneartikel, Kinderbücher und Spielsachen abgegeben. Auf der Facebookseite „Steinbacher Stadtgespräch“ haben die Flüchtlingsfrauen eine Liste gepostet mit Dingen, die sie wirklich dringend benötigen. Auch das Steinbacher Frauennetzwerk hat gespendet. „Die Spendenbereitschaft ist immens“, lobt Akademieleiterin Filiz Mahner.

In der vergangenen Woche kamen 31 Personen – darunter die Hälfte Kinder und Jugendliche in Steinbach an. Der Gewerkschaftsvorstand widmete das Bildungszentrum daher kurzerhand in eine Flüchtlingsunterkunft um und entlastete die Stadtverwaltung, die bislang schon 50 Flüchtlinge in Privatwohnungen vermittelt hat. Bürgermeister Steffen Bonk gehörte unter anderem zum Begrüßungskomitee und verteilte Stadtpläne. Der Rathauschef rechnet mit der Aufnahme von bis zu 200 Menschen aus der Ukraine. Einige wenige kann die Kommune in einer städtischen Liegenschaft in der Kirchgasse unterbringen. Das Haus in der Sodener Straße ist für zwei Familien reserviert, die obdachlos werden.

Filiz Mahner leitet die Gewerkschaftsstätte seit 2019. Das einzige Bildungszentrum von Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) in Deutschland, das 90 Gäste beherbergen kann, mutet wie ein Parkhotel an. Flüchtlinge sprechen auch von Urlaubsgefühlen und die können sie nach den traumatischen Kriegserlebnissen gut gebrauchen. Die Menschen, bis auf wenige Ausnahmen Frauen mit Kindern, deren Ehemänner an der Front kämpfen, hatten mehrere Nächte lang nicht geschlafen und waren völlig erschöpft. Sie haben sich etwas erholt, lächeln bisweilen, umarmen das Personal. Dem Küchenchef haben sie, als Zeichen der Dankbarkeit, ein Ständchen gesungen. Filiz Mahner führt durch das Haus, gestattet einen Blick in die Zimmer, in denen bis zu drei Personen leben. Ein Mädchen hat ihre Matratze unter den Schreibtisch geschoben, in eine Höhle wie sie sagt, dort fühlt sie sich geschützter. Ein Raum wurde zur Kleiderkammer umfunktioniert und von der Arbeiterwohlfahrt (Awo) aus dem eigenen Depot mit Hosen, Blusen und Jacken bestückt. Auf der anderen Seite des Ganges malen und basteln die Kinder, in einer Ecke stapeln sich Stofftiere. Auch Bücher und Stifte sind gespendet worden.

Im Erdgeschoss, neben dem Foyer, sitzt Svitlana Linne – 2004 aus Kiew eingewandert. Sie arbeitet in der Bilanzbuchhaltung der Gewerkschaft in Frankfurt-Heddernheim und fungiert in der Steinbacher Dependance als Dolmetscherin. Landsleute fragen sie immer wieder, wie sie sich nützlich machen können.Ihre Zimmer reinigen sie selbst, versehen Gartenarbeiten und würden am liebsten die Fenster putzen. Eine Frisörin hat ihr Handwerkszeug dabei und bittet in den improvisierten „Salon“.

Zu den starken Frauen des Betreuerteams zählt auch Irina, ebenfalls Dolmetscherin, aus einer Provinz an der Grenze zu Belarus. Sie kam zunächst bei ihrer Freundin Svitolina unter und siedelte dann nach Steinbach über. Als in ihrer Heimatstadt die ersten Bomben fielen, kletterte sie mit ihrer Tochter Katja (zehn Jahre) in den Bus nach Warschau, nahm von dort den Zug nach Berlin und reiste schließlich mit der Bahn ins Rhein-Main-Gebiet. Der Krieg hat ihre Familie auseinander gerissen. Die älteste Tochter ist bei Bekannten in Israel, ihr Ehemann steht in Kiew an der Front.

Am Montagabend schaut Filiz Mahner auf den Zettel mit den Stichworten für ihre Begrüßungsrede. Sie wartet schon seit Stunden auf den Bus mit 16 weiteren Flüchtlingen. Zunächst hält ein Taxi mit drei Frauen und einem jungen Mann aus Moldawien. Der Bus kommt entgegen der Ankündigung gar nicht. Mahner glaubt, einige Flüchtlinge würden das Haus bald verlassen und bei Verwandten oder Freunden ein Zuhause finden. Das war am Dienstag bereits der Fall.

Hilfsgüter sind in der Waldstraße auch weiterhin willkommen. Die Leitung der IG Bau bittet jedoch um eine vorherige Absprache über den konkreten Bedarf. Sie ist unter den Telefonnummern 06171-702400 oder 06171-702422 erreichbar. Im Dachgeschoss sollen zwei Wohnungen eingerichtet werden. Dafür werden Küchengeräte, Schränke, Polstermöbel und Betten gebraucht.

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