Warum Menschen Märchen brauchen

Mimik, Gestik und ganz wichtig den Einsatz der Stimme – Erzähler Erwin Stammler aus Oberösterreich nimmt seine Zuhörer mit auf einen Ausflug in die Welt der Märchen. Foto: fk

Steinbach (fk). Märchen müssen nicht immer mit der bekannten Formel „Es war einmal...“ beginnen. Schon gar nicht, wenn sie sich an Erwachsene richten. Aber Erwin Stammler war es gelungen, sein Publikum in eine Zeit mitzunehmen, als das Wünschen noch geholfen hat und Märchen ein fester Bestandteil der Alltagskultur waren. Wenn sich die Menschen, ob groß oder klein, am Abend in der guten Stube zusammensetzten und Geschichten erzählt wurden.

Mit dem sanften Ton der angeschlagenen Klangschale kehrte langsam Ruhe im Höck’schen Hof ein. Knapp 80 Besucher hatten sich zum „Märchenabend für Erwachsene“, ein Angebot der Kulturreihe „Steinbach Open Air“ und organisiert durch die Stadtbücherei, im Innenhof des Gebäudes eingefunden, um sich ins Reich der Fabeln und Märchen entführen zu lassen. Gespannt lauschte das Publikum den Worten von Erwin Stammler. Der sympathische Märchenerzähler aus dem kleinen Örtchen Eberschwang in Oberösterreich hatte durch private Kontakte in Steinbach Station gemacht und zog die Besucher mit sonorer Stimme in seinen Bann. Stammler weckte mit seinen Erzählungen bei manchem Zuhörer sicherlich noch Kindheitserinnerungen, als das Erzählen von Geschichten – nicht nur vor der Schlafenszeit der Kinder – noch um Klassen verbreiteter war als in Zeiten von E-Readern, TikTok-Storys oder Insta-Posts. Der Kampf Gut gegen Böse, das Lernen aus schwierigen Situationen und die Hoffnung, dass auch scheinbar ausweglose Situationen zu meistern sind und der Rechtschaffene am Ende für seine Haltung belohnt wird, allein deshalb brauchen wir Menschen wohl Märchen. „Es hat mich sehr gefreut, wie gut die Veranstaltung angekommen ist, schließlich war es die erste dieser Art und eine Fortsetzung wäre durchaus denkbar“, erklärte die Leiterin der Stadtbücherei, Nicole Kaluza.

Mit reichlich schauspielerischem Talent präsentierte Stammler unter anderem ein afrikanisches und ein kanadisches Märchen und andere Weisheitsgeschichten, wobei er durch das Wechseln der Stimmlage in die Rolle der unterschiedlichen Personen schlüpfte und so dem Erzählten mit toller Gestik und Mimik noch zusätzlich Leben einhauchte. Hier merkte man deutlich die 30 Jahre Erfahrung in seinem Metier. Die Zuhörer tauchten ein in die Welt eines Königs, der eine hübsche Frau geheiratet hatte, deren Schönheit mit den Jahren aber zusehends verblasst war. Als eben jener König eines Tages einem Bauern und seiner Frau begegnete, verliebte er sich in die attraktive Bäuerin und nahm sie zur Frau. Doch auch ihre Schönheit verblühte schnell, und so fragte er den Bauern, was sein Geheimnis war und warum seine Frauen ihr Strahlen verloren. „Im Grunde ging es dabei um die Beziehung zwischen Mann und Frau und was sie frisch und lebendig hält. Auch Freundschaft war das zentrale Thema einer Geschichte – alles Dinge, die man Menschen mit auf den Weg geben kann und die zum nachdenken anregen sollen“, erklärte Kaluza. Auch ein Märchenrätsel hatte Erwin Stammler vorbereitet, und während er auf der Drehorgel spielte, sang er dazu eine Umschreibung für ein Märchen, das die Zuhörer erraten mussten.

Der gelernte Kfz-Mechaniker, der auch als Kommunikationstrainer und Coach gearbeitet hat, widmet sich seit 2002 der Kunst des Märchenerzählens. „Ich bin als kleiner Junge meiner Mutter immer davongelaufen, wenn sie mir Märchen erzählen wollte. Aber später, immer wenn ich eine Geschichte erzählt habe, haben mir die Menschen zugehört. Und je fantastischer die Geschichten waren, umso mehr konnte ich an Aufmerksamkeit gewinnen“, berichtete Stammler. Richtig bewusst sei ihm sein Erzähltalent erst nach seiner Rückkehr aus einem mehrjährigen Einsatz in Nigeria geworden. „Anfangs wollte ich immer alles ganz genau berichten und merkte bald, dass die Menschen eine Geschichte hören wollen. Also habe ich begonnen, meine Worte auszuschmücken mit Farben, Gerüchen, Gefühlen und Gesprächen. Somit begannen meine Geschichten zu leben“, erinnerte sich Erwin Stammler an die Anfangszeit seiner „Märchenkarriere“. Das Interesse an seinen Geschichten sei stetig gewachsen. „Auch bei der anschließenden Jugendarbeit begeisterten sich die jungen Menschen – besonders im Zeltlager – für meine Geschichten und forderten sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein. Ich habe immer mehr Freude und Freunde dabei gefunden, also habe ich irgendwann angefangen, Geschichten professionell zu erzählen und aus meinem Hobby ist meine Berufung geworden“, so Stammler.

„Ich habe rund 50 Märchen sowie ungefähr die gleiche Anzahl an Weisheiten beziehungsweise Geschichten für Erwachsene in meinem Repertoire. Die kann ich alle frei aus dem Gedächtnis präsentieren. Bei Kindern passe ich die Märchen entsprechend den Befindlichkeiten und dem Alter an. Es bleibt aber immer bei einem roten Faden. Im Erwachsenenbereich ist man in der Präsentation und beim Erzählen dann doch deutlich freier“, so der 72-jährige Rentner. Vor der Coronakrise hatte der erfahrene Kommunikationstrainer bis zu 50 Auftritte im Jahr. Nach der Zwangspause für Auftritte vor Publikum sind es mittlerweile wieder rund 20 Termine.



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