Die Pfarrer sind jetzt Video-Prediger

Bereit für den Videogottesdienst (v. l.): Benjamin Lüdtke, Pfarrer Herbert Lüdtke und Tobias Mehner. Foto. HB.

Von Hans-Jürgen Biedermann

Steinbach. So häufig wie in der Corona-Krise sind Turm und Kirchenschiff noch nie im Netz aufgerufen worden. Seit drei Wochen bildet die 700 Jahre alte Kirche der evangelischen St.-Georgs-Gemeinde das Zentrum der Videogottesdienste, die über You Tube verbreitet werden. Auf diese Weise empfangen die Gläubigen von ihren Pfarrern Herbert Lüdtcke und Werner Böck Worte der Hoffnung und Zuversicht. Arbeitskreise, Chorproben und Konzerte sind allesamt vertagt worden. Das Leben in der kirchlichen Gemeinschaft macht eine Zwangspause.

Die Kamera fährt die Treppe hoch, blickt durch die geöffnete Holztür an der Schmalseite, folgt dem Mittelgang zum Altar mit dem Kruzifix und der Stummorgel, vor dem sich die Protagonisten versammeln. Mit diesem Vorspann beginnt jeder virtuelle Gottesdienst, auch heute wieder, wenn zum ersten Mal überhaupt das Abendmahl per Video gefeiert wird. An diesem Gründonnerstag in Erinnerung an das letzte Mal des Gottessohnes mit seinen Jüngern vor 2000 Jahren in Jerusalem. Eingangs bittet Werner Böck die Gemeinde, Brot und Saft in Reichweite zu platzieren, um den Handlungen ihres Pfarrers folgen zu können. .Das Sakrament endet mit der Botschaft „Gehet hin in Frieden.“ Der Wunsch ist allgegenwärtig.

Über die Feiertage werden sich drei weitere Übertragungen aus der altehrwürdigen Kirche anschließen – zur Todesstunde Jesu am Kreuz von Golgatha, um 16 Uhr am morgigen Karfreitag, wenn Pfarrrer Böck wiederum zum Abendmahl einlädt. Am Ostersonntag predigt Pfarrer Lüdtke über die Auferstehung – „Er ist nicht mehr da“ – und dazu hat Ellen Breitsprecher mit Acrylfarbe ein großformatiges Bild gespachtelt, auf dem das leere Kreuz im Mittelpunkt steht. Das 1,50 Meter mal 1,50 Meter große Gemälde wird im Altarraum aufgestellt. Die pastoralen Videobotschaften enden vorerst am Ostermontag mit einer Meditation Lüdtkes über die Emmaus-Jünger. Das jeweilige Video wird frühzeitig ins Netz gestellt, damit die Empfänger entscheiden können, ob sie es zur gewohnten Gottesdienststunde oder zu einem anderen Zeitpunkt aufrufen wollen. So soll es bis zum Ende der Krise gehandhabt werden. Bis die Gemeinde wieder zum Gottesdienst Platz nimmt und der Pfarrer auf der Kanzel steht.

Ein eingespieltes Team

Für die Gemeinde erweist es sich als Glücksfall, dass sie mit Herbert Lüdtke einen Seelsorger hat, der von 1989 an acht Jahre lang Frühstückspfarrer bei RTL war. Der 60-Jährige führt bei den Produktionen im Kirchenstudio Regie, wobei er sich auf ein Team mit viel Sachkenntnis und Talent verlassen kann. Etwa auf seinen Sohn Benjamin, der die Kameraführung von der Pieke auf gelernt hat. Auch auf die vielseitige Ellen Breitsprecher am Klavier mit ihrer Tochter Nathalie am Cello. Für die Begleitmusik sorgt auch der Vibraphonist Tobias Mehner, Dozent am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt. Lüdtkes Tochter Hannah tritt als Gesangssolistin auf.

Der Pfarrer erinnert sich an die Fernsehjahre, als er im RTL-Studio Presseschlagzeilen aus dem Stand kommentierte. Damals habe er „die Sprache des Boulevards gelernt“. Soll heißen: So zu reden, dass ihn jedermann versteht. Die Videopredigt soll nicht länger als vier Minuten dauern, und in dieser Zeit spricht er frei, impovisiert bisweilen und huldigt dem Bauchgefühl. Er vermag sich vorzustellen, dass die Holzbänke besetzt sind, und konzentriert sich auf eine Gemeinde, die tatsächlich daheim vor dem Computer sitzt.

Kollege Böck hat keine TV-Erfahrung. Für ihn war die leere Kirche gewöhnungsbedürftig, und bei seinem ersten Kameraauftritt lag die Predigt ausformuliert in einer Mappe. Bei einer solchen Kurzpredigt, die nicht länger als fünf Minuten sein soll, müsse man „schnell auf den Punkt kommen“, habe keine Zeit, „die Gemeinde mitzunehmen“.

Die Videopfarrer kommen offenbar gut an. Bei You Tube werden die Predigten bis zu 1300 mal angeklickt. Die Kommentare sind durchweg positiv. Den Pfarrern wird für die „sehr tröstlichen Worte“ gedankt. Die Predigten sollen in diesen schweren Zeiten Gottvertrauen vermitteln und das Gemeinschaftsgefühl der Gläubigen auch ohne physische Nähe stärken. In St. Georg heißt es, im Dekanat werde ansonsten nur noch in Oberstedten und in der Bad Homburger Erlöserkirche die frohe Botschaft auf Video übermittelt. Die Christen der katholischen St.-Bonifatiusgemeinde in Steinbach können jeden Werktag von 18 bis 19 Uhr die Kirche in der Untergasse zum Gebet aufsuchen. Die Glocken beider Kirchen läuten jeden Abend um 19.30 Uhr gemeinsam. Corona befördert auch die Ökumene.



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