Atem holen und Inspiration finden

Die im Stadtarchiv gezeigten historischen Postkarten inspirieren Hölderlin-Förderpreisträger Joshua Groß und Schriftstellerin Lisa Krusche, die für vier Wochen in die städtische Hölderlin-Wohnung unter dem Dach der Villa Wertheimber eingezogen sind. Foto: Bergner

Von Astrid Bergner

Bad Homburg. „Hier haben wir viel Raum, Platz und Aussicht!“ Die Schriftstellerin Lisa Krusche, die derzeit gemeinsam mit dem Hölderlin-Förderpreisträger Joshua Groß für vier Wochen die Hölderlin-Wohnung in der Villa Wertheimber an der Tannenwaldallee bewohnt, beschreibt den „radikalen Ortswechsel“ auf Zeit von ihrer Mietswohnung mitten in Braunschweig in die herrschaftliche Villa im Gustavsgarten begeistert.

Der Park sei wunderschön. Und ihr Partner Joshua Groß, der 2021 den Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt für seinen Roman „Flexen in Miami“ und damit das vierwöchige Aufenthalts-Stipendium erhalten hat, sitzt manchmal an einem Fenster der Dachwohnung, liest und lässt den Blick in die Ferne schweifen. Zwei Stockwerke unter ihm im Stadtarchiv, dem „Gedächtnis der Stadt“, steht meterweise Stadtgeschichte in den Regalen. Zum Gedächtnis der Kurstadt am Taunus gehören auch Schriftsteller wie Friedrich Hölderlin und Fjodor Dostojewski.

Wenn er die historischen Bilder im Stadtarchiv angucke, gewinne er ein neues Verständnis für die Romane Dostojewskis: „Seine Figuren könnten heute auf den Parkbänken im Kleinen Tannenwald sitzen“, sagt der 1989 geborene freie Schriftsteller Joshua Groß. Aus dem Bestand des Hölderlin-Gesamtwerks und der Sekundärliteratur in der 70 Quadratmeter großen Wohnung unter dem Dach hat sich der 32-Jährige, der Politikwissenschaften, Ökonomie und das Fach Ethik der Textwissenschaften mit Philosophie und Literaturwissenschaft studiert hat, den Band eines Hölderlin-Forschers gezogen. Über ein Klinisches Gutachten zu Hölderlin (1770-1843) wird da geschrieben und den späteren Versuch, in der Biografie des großen deutschen Dichters frühe Anknüpfungspunkte für seine psychische Erkrankung zu finden.

Er brach mit den klassischen Formen der Dichtung, gab die Epische Form des Gedichts auf, Hölderlins Konzentrationsfähigkeit ließ nach – löste sich da sein Bewusstsein auf, verlor er sich in einer Parallelwelt? Diese Erklärungsversuche seien gescheitert, erzählt Jo-shua Groß über seine Lektüre. Den Gedanken, dass sich Menschen in anderen Welten verlieren, hat der junge Schriftsteller selbst in seinem 2020 erschienenen Roman „Flexen in Miami“ umkreist und mitten in die Gegenwart der digital geprägten Welt gestellt. Seine Romanfiguren begegnen sich in einem Computerspiel als Doppel in anderen Räumen – „da geht es viel um die Erfahrung der Einsamkeit, um Freundschaft und Liebe und wie man Menschen begegnet, wenn sich jeder so abkapselt“, sagt Groß in der Gesprächsrunde im Foyer der Villa Wertheimber.

Neugier auf Neues

In dem munteren Gespräch mit beiden geht es viel um das Eintauchen in unterschiedliche Lebenswelten, um Neugier auf Neues in unbekannten Kontexten, gedankliche Science-Fiction-Ausflüge und Kontraste von Existenzen. „Einsamkeit, Liebe, Verzweiflung: Das sind existenzielle Empfindungen aller Menschen, und meine Überzeugung ist, dass sich Glück wie menschliche Abgründe in prekären genauso wie in privilegierten Lebensformen finden“, meint Groß, der in „Entkommen“, 2021 erschienen, und dem geplanten 3. Band seiner Trilogie mit dem Titel „Prana extrem“, an dem er gerade arbeitet, in Erzählungen und Essays unter anderem diesen Themen weiter nachgeht.

Die 1990 geborene Lisa Krusche, die Germanistik, Kunstwissenschaft und Literarisches Schreiben studiert hat und bereits mehrere Literaturpreise gewann, nutzt den Aufenthalt in der Hölderlin-Wohnung auch, um vor allem mit Kindern und Jugendlichen weiter ins Gespräch zu kommen: Sie freue sich sehr auf die Begegnungen in diesen Wochen mit jungen Bad Homburger Schülern. „Kinder sind beim Fragen unverblümt und neugierig“, sagt sie. Außer ihrem Debütroman „Unsere anarchistischen Herzen“ (2021) hat die Schriftstellerin und Essayistin sich mit dem Buch „Das Universum ist verdammt gross und super mystisch“ auch dem Schreiben von Kinder- und Jugendliteratur zugewandt. Poetische Ausdrucksweise, Jugendslang, Humor und rebellierende Wut prägten ihre „quecksilbrig mischfreudige Sprache“, so heißt es in begeisterten Besprechungen ihrer Werke.

Dass sich die beiden jungen Schriftsteller mit dem Lebensgefühl und der Sprache der jüngeren Generation unmittelbar verbinden können – „trotzdem wir als Schriftsteller ja immer etwas im Rücken haben und nie ahistorisch sind“, so Krusche – , wird deutlich, als Lisa Krusche verschmitzt einen wattierten Umschlag hinterm Stuhl hervorzieht: Das sei das erste Paket, das ihr nach Bad Homburg in die Villa Wertheimber geschickt worden sei, sagt sie und holt das Jugendbuch „Vier verrückte Schwestern“ heraus, „ein altes Buch, das ich mal gelesen habe“.

Dem Anliegen der Stadt, junge Menschen hier mit zeitgenössischen Schriftstellern in Verbindung zu bringen, wie es Kulturamtsleiterin Dr. Bettina Gentzcke im Gespräch äußert, kommen Joshua Groß und Lisa Krusche in den nächsten Wochen mit Workshops und Lesungen an der Humboldtschule, dem Kaiserin-Friedrich-Gymnasium und in der Stadtbibliothek nach. „Dabei geht es vor allem um Begegnung zwischen uns und den Kindern und Jugendlichen, um Möglichkeiten des Nachdenkens über den Sinn von Schreiben und den Schriftsteller-Beruf“, sagen beide. Es sei halt ein verbreitetes Klischee, dass man als Schriftsteller zu Hause sitze und schreibe und dann das Geld fließe. Gerade in Pandemie-Zeiten sei das Dasein als freier Schriftsteller eher unsicher. Und Joshua Groß erzählt von seiner Tätigkeit an der Universität und für eine Literaturzeitschrift, Lisa Krusche betont, dass ein Drittel des Schriftsteller-Gehalts durch Veranstaltungen wie Lesungen erwirtschaftet werden müsse. „Wir hatten Glück, dass wir 2020 beide Literaturpreise bekommen haben.“

Als Glück empfinden die beiden temporären Bewohner der Villa Wertheimber es auch, dass ihre Hovawart-Hündin Lou mit in die Hölderlin-Wohnung einziehen durfte. Mehrmals am Tag laufen sie mit dem Hund die knarzenden alten Treppen hinunter, vorbei an den Räumen des Stadtarchivs und der Hölderlin-Ausstellung raus in den weitläufigen Gustavsgarten. Den Aufenthalt mit Tier hatte die Stadt bereits 2020 nach Fertigstellung der Hölderlin-Wohnung dem ersten Stadtschreiber Peter Henning ermöglicht: Er zog mit zwei Windhunden und einem Haufen Schmetterlings-Puppen hier ein.

„Schreiben ist Arbeit“, sagt Lisa Krusche energisch. Schon Hölderlin habe erfahren müssen, wie schwer Schriftstellern und Dichten mit einer normalen Arbeit zu verbinden sei. „Wir lesen, recherchieren und schreiben hier.“ Aber sie nehmen sich auch Zeit zum Erkunden der Stadt, waren schon im Sinclair-Haus und spazieren in die Umgebung. Als die beiden ihre Hündin nach dem Gespräch mit vor die Tür nehmen, spürt man die Freude, mit der Groß und Krusche den Aufenthalt in der schönen geschichtsträchtigen und grünen Umgebung wahrnehmen. Atemholen und Inspiration – so soll es für Bewohner der Dichter-Wohnung ja auch sein.

!Schriftsteller Joshua Groß und Schriftstellerin Lisa Krusche lesen unter dem Titel „Von Wassermelonen und Grapefruits“ am 17. Februar um 19.30 Uhr aus ihren aktuellen Büchern und unveröffentlichten Texten; am 19. Februar um 15.30 Uhr liest Lisa Krusche für Kinder ab zehn Jahren aus ihrem Kinder- und Jugendbuch „Das Universum ist verdammt gross und super mystisch“. Die öffentlichen Lesungen finden in der Stadtbibliothek, Dorotheenstraße, statt, Eintritt frei. Anmeldungen per E-Mail an stadtbibliothek[at]bad-homburg[dot]de.

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