Wenn die Erinnerungen ganz langsam verschwinden

Momente, an die ich mich nicht erinnern kann: Johanna Schlegel nähert sich in den chemisch und manuell bearbeiteten Fotografien, die in der Englischen Kirche hängen, fast malerisch dem Thema Erinnerung. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Erinnerungsfetzen schießen durch den Kopf, Episoden, die sich auflösen, zurückgeholt beim Betrachten eines Familienalbums mit Fotografien. Können die Bilder eine vergangene Zeit wiederbeleben, visuell wiederholen, was in Wirklichkeit nie mehr wiederkehrt? Oder verwandeln sie „lebendige Wesen in leblose Dinge und leblose Dinge in lebendige Wesen?“, wie die Fotografie-Essayistin Susan Sontag 1980 schrieb. Kann die Fotografie als Gedächtnismedium wirklich Erinnerung im Bild festhalten?

Die Fotokünstlerin Johanna Schlegel, deren Werkserie „memories I don’t have“ noch bis Sonntag, 14. November, im Kulturzentrum Englische Kirche, Ferdinandsplatz, ausgestellt sind, kreist mit ihren Fotoarbeiten um das Nicht-Erinnern. Für ihr Werkprojekt hat die Studentin der Hochschule für Gestaltung Offenbach (HfG) nun den Fotopreis „ISO 5000“ der Hans und Annemarie Weidmann-Stiftung erhalten, mit dem jährlich junge Fotokünstler ausgezeichnet werden, deren Werk auf den erweiterten Möglichkeitshorizont der Fotografie verweist.

Fast impressionistisch und der Malerei verwandt wirken die 15 Bilder von Johanna Schlegel. Sie, die nach einem Studium der Betriebswirtschaft und der Arbeit im Online-Marketing vor fünf Jahren begann, Bildende Kunst zu studieren, reproduziert ausgewählte Bilder aus dem familieneigenen Fotoarchiv, auf denen menschliche Gestalten und auch sie selbst abgebildet sind, großformatig und besprüht sie mehrfach mit chemischen Lösungen und Wasser; die Farbteilchen lösen sich auf, Fotopartikel werden verschoben, die Figuren werden zunehmend unkenntlich und erscheinen immer abstrakter. Die ihrem Ursprungsort auf dem Foto entkommenen einzelnen Partikel fixiert Johanna Schlegel schließlich mit Klarlack. „Der Prozess der Loslösung der Erinnerung und ihres Verfalls ist Teil des Bildes“, sagte Laudator Sascha Mintkiewicz von der Weidmann-Stiftung bei der Vernissage in der Englischen Kirche, der auch über die Geschichte der Fotografie und ihre Konkurrenz zur Malerei seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert sprach. Der Gestus in Johanna Schlegels Bildern reiche „bis zum Vernichten der Erinnerung, die gleichsam auch die Todesstunde der Fotografie bedeutet“, so Mintkiewicz. „Die Fotografie ist tot – es lebe die Fotografie!“

Prozess der Verwandlung

Erkenne ich ein Mädchen mit Halskette? Mütter mit Kindern und ein Liebespaar? Nackte Füße unterm Rock, die auf grünem Gras stehen? Die Farben haben die Töne des Unsagbaren, Vagen an sich; Gestalten sind in Beziehung einander zugetan, aber entfernen sich in kleinsten Teilchen voneinander, werden Schemen, unendlich anmutig. Manchmal glaubt man in all den Punkten noch ein Gesicht zu erkennen – aber ist es wirklich, und was ist noch wirklich, was erinnerte Assoziation? Lediglich derjenige, der die fotografierte Szene erlebt hat, mittendrin war, kann sie in seiner Erinnerung weiter festhalten, wobei auch seine Erinnerung dem Prozess der Verwandlung unterliegt, meint Johanna Schlegel, die seit 2017 ihre Werke in namhaften Kunst-Institutionen ausstellt.

Klaviermusik von Liszt, Ravel, Skrjabin und Rachmaninow, dargeboten vom Pianisten Leonhard Dering, trat während der Vernissage in Wechselwirkung mit den ausgestellten Arbeiten – Töne als Momentaufnahmen im Augenblick der Interpretation entstehend und vergehend und so auch Phänomene des Erinnerns und Vergessens. In Anwesenheit der Bad Homburger Stadträtin Nina Hoff-Kott, Vertretern der Stiftung und weiterer Studenten der HfG konnten die Gäste der Vernissage mit Fotokünstlerin Johanna Schlegel ins Gespräch kommen.



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