„Jetzt geht langsam die Kraft aus“

Der neunjährige Grundschüler Ferdinand, der die 4. Klasse der Friedrich-Ebert-Schule besucht, sitzt täglich zu Hause am Schreibtisch vor Übungsblättern und Laptop. Bei der Bewältigung der technischen Anforderungen des Homeschooling helfen ihm und seinen Geschwistern die Eltern; doch für viele Grundschüler mit ihren Familien und Betreuern ist Lernen im Lockdown kaum noch machbar und leistbar. Foto: a.ber

Von Astrid Bergner

Bad Homburg. Ein Recht auf Bildung und würdevolles Lernen? Grundschulkinder haben im zweiten Lockdown seit Mitte Dezember 2020 besonders schwierige Bedingungen beim Lernen: Sie kämpfen nicht nur mit schriftlichen Aufgaben, die Lehrkräfte stellen, sitzen ratlos vor Laptops, die sie nicht selbst bedienen können; überforderte Eltern, diffuse Ängste, mangelnde Bewegung und fehlender sozialer Austausch mit Freunden und Lehrern prägen ihren Alltag nun schon seit mehr als zwei Monaten.

Wenn in Hessen ab 22. Februar der Unterricht an Grundschulen in wechselnden Gruppen wieder stattfindet, werden auch nicht alle Kinder von Eltern und Einrichtungen geschickt. Besonders hart trifft es Grundschüler aus bildungsfernen Familien und sozial prekären Verhältnissen. Die Bad Homburger Woche hat nachgefragt bei sozialen Einrichtungen im Hochtaunuskreis, welche Möglichkeiten der Hausaufgabenhilfe und Nachmittagsbetreuung derzeit noch möglich und leistbar sind.

„Da ihre Mutter kein Deutsch spricht, sitzt sie bei mir im Büro, und ich mache, sofern es organisatorisch klappt, mit ihr die Aufgaben und korrigiere diese.“ So berichtet Sebastian Fischer, Bereichsleiter Soziale Dienste des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), über eine Grundschülerin aus der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Schloßborn im Hochtaunuskreis, die er betreut. Das DRK Hochtaunus versucht in Schloßborn und Schmitten ebenso wie in den Gemeinschaftsunterkünften Bad Homburg und Oberursel, die Grundschulkinder beim Home-Schooling zu unterstützen. „Mit den Lehrkräften der Schulen stehen wir in engem Kontakt, haben eine spezielle Telefonnummer, unter der uns die Lehrer jederzeit erreichen können. Die Sozialarbeiter des DRK nehmen die Arbeitsaufträge für die Schüler entgegen, die in Papierform vom Lehrpersonal zur Unterkunft gebracht oder per E-Mail übermittelt und von uns dann ausgedruckt werden. Bei den weniger autonomen Familien achten wir täglich darauf, dass die Aufgaben erledigt werden. Manche Flüchtlingsfamilien kommen auch mit dem technischen Prozedere zurecht. Aber Schüler, die den Herausforderungen trotz Unterstützung überhaupt nicht gewachsen sind, werden trotz Lockdown in Schule oder Hort geschickt, um dort Hilfe zu bekommen“, beschreibt Sebastian Fischer die Situation. Flüchtlingsfamilien, die bereits in einem eigenen Zuhause wohnen, haben es mitunter noch schwerer: Fischer erzählt von einem Vater aus Schmitten, der einmal pro Woche Arbeitsblätter von der Schule abhole und diese zurück zur Lehrerin bringe, die den Vater dann über die Ergebnisse informiere. Über das Tablet des Vaters könne das Schulkind einmal pro Woche 45 Minuten an einer Unterrichtseinheit online teilnehmen.

Defizite noch nicht abzuschätzen

„Jetzt geht langsam die Kraft aus bei Kindern und Betreuern“: Hilde Merz, Leiterin der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung „Frankfurter Kinderhaus“ in Bad Homburg-Gonzenheim, beschreibt die Situation als sehr belastend für alle Beteiligten. In dem Haus wohnen neun Kinder und Jugendliche, die aus ihren Familien herausgenommen werden mussten, mit Sozialarbeitern. Die drei Grundschulkinder besuchen die 2., 3. und 4. Klasse der Friedrich-Ebert-Schule. Wie Hilde Merz berichtet, gebe es derzeit einen erhöhten Personalaufwand, da morgens ab 11 Uhr eine Beschulung im Haus selbst stattfinden müsse: Arbeitsaufträge erklären, Videokonferenzen mit den Kindern gemeinsam machen – „wir können noch nicht abschätzen, welche Defizite beim Lernen entstanden sind, aber es gibt sie definitiv“, so Merz. Das Frankfurter Kinderhaus hat sich seit Monaten weitgehend isoliert, „aber die Kinder und Jugendlichen haben einander wie in einer großen Familie, und das hilft in so einer Situation.“

Die katholische Caritas im Hochtaunuskreis hatte vor der Pandemie 15 Kinder in Gruppen mithilfe von Ehrenamtlichen in Steinbach und Weißkirchen bei den Hausaufgaben nachmittags betreut. Zur Zeit könne jedes Kind nur einmal wöchentlich für 45 Minuten zur Hausaufgabenhilfe kommen, dienstags und donnerstags sind dafür zwei Ehrenamtliche mit Mundschutz und Abstand den ganzen Tag im Einsatz. Die Grundschüler mit dem größten Förderbedarf werden ihnen von den Grundschulen gemeldet, so Martina Arndt, Einrichtungsleitung der Caritas-Beratung Hochtaunus. Bei der evangelischen Diakonie Hochtaunus ist Judith Desoi für die Betreuung der Flüchtlingsunterkunft in Friedrichsdorf-Köppern zuständig. „Vor Corona wohnten zwölf Kinder im Haus, die zweimal wöchentlich von ehrenamtlichen Kräften bei den Hausaufgaben Hilfe bekamen. Ehrenamtliche dürfen aber derzeit nicht in die Unterkunft kommen, sie unterstützen jetzt von außen. Die Erwachsenen bringen ‚Aufmunterungspakete‘ für die Kinder an die Tür. An der Tür geben auch die Lehrkräfte der Grundschulen ihre Hausaufgabenblätter ab. Das geht dann alles telefonisch“, beschreibt Judith Desoi die Lage.

Dass die Grundschulkinder mittlerweile sehr große Lern-Defizite haben, betont Kristina Odak, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Hochtaunus. „Bildung und soziale Fürsorge sind so wichtig für die Zukunft aller Kinder“, so Odak. Die beiden sozialpädagogischen Fachkräfte, die beim Kinderschutzbund angestellt sind, versuchten seit März 2020 ihr Möglichstes, um die 13 Grundschüler und 14 Jugendlichen, die normalerweise im Ingrid-Karutz-Haus in Bad Homburg Hilfe beim Lernen bekommen, weiter zu unterstützen. Täglich von 8 bis 18 Uhr kommen die Kinder einzeln oder in Zweiergruppen, falls sie aus einem Haushalt stammen, um eineinhalb Stunden Schulaufgaben zu machen und zu üben. Ab spätnachmittags gibt es dann noch eine virtuelle Hausaufgabenbetreuung in Gruppen für Jugendliche.

Der Kinderschutzbund hat den Kindern Laptops zur Verfügung gestellt. „In den vergangenen zwölf Monaten haben unsere zwei Fachkräfte schon fünf Hygienekonzepte entwickelt, und oft gibt es Ungewissheit und keine Ansprechpartner in den Behörden“, klagt Kristina Odak. „Da gibt es leider Kinder aus sozial schwachen Familien, die komplett abgehängt sind. Und was in den Familien zu Hause abläuft, können wir manchmal nur ahnen.“ Beim Kinder- und Jugendtelefon des Kinderschutzbundes haben allein im Jahr 2020 rund 30 Prozent mehr Kinder angerufen und um Hilfe gebeten als in den Jahren zuvor.



X