Kafkas „Verwandlung“ führt zu menschlichen Abgründen

Ronald Zehrfeld ist aktuell in einem Kinofilm mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger und exklusiv in Bad Homburg beim Literatur- und Poesiefestival zu sehen. Foto: nl

Bad Homburg (nl). Eine Frage, bevor es um den Abend des Poesie- und Literaturfestivals geht: Kennen Sie vielleicht Valentina Vapaux? Das ist die Ikone der neuen Literaturkritik. Die weibliche Ausgabe des Marcel Reich-Ranicki, die es schafft, auf Tiktok junge Leute für Literatur zu begeistern. Was sie liest, ist cool und sofort angesagt. Was liest sie? Allem voran Franz Kafka. „Die Verwandlung“ ist eben nicht nur Schullektüre, sondern ein alle begeisternder Text.

Ronald Zehrfeld, der im vergangenen Jahr in Margarethe von Trottas Kinofilm über das kurze Leben Ingeborg Bachmanns den Schriftsteller Max Frisch verkörperte, las im Speicher des Kulturbahnhofs einen der denkwürdigsten Texte des diesjährigen Festivals. Franz Kafkas Text über Gregor Samsa, „Die Verwandlung“. Ronald Zehrfeld, der unübersehbare Präsenz ausstrahlt, erscheint ganz in Schwarz gekleidet mit einer orangefarbenen Blume in seiner Hemdtasche. Sie erscheint wie ein Markenzeichen eines Mannes, dem die dramatischen Seitenhiebe des Lebens und vielleicht auch die des heutigen Textes nichts Schlimmes anhaben können. Sein Lächeln ins Publikum ist selbst noch mit Ende vierzig faszinierenderweise das eines jungen Mannes, der neugierig darauf wartet, wann er mit seiner Charmanz die Herzen der Zuschauer erobert.

Ein Geschäftsreisender, der sich plötzlich in die Gestalt eines Käfers verwandelt – das ist das Schicksal des Gregor Samsa. Kafka, der Anfang Juni seinen 100. Todestag hatte und mit nur 41 Jahren an den Folgen einer Lungenerkrankung verstarb, schrieb mit dieser schmalen Erzählung einen der wichtigsten Texte des 20. Jahrhunderts. Die Anmutung einer Verwandlung eines Menschen in etwas Ekliges mit vielen dünnen Beinchen, die einen unförmigen Leib, umhüllt von einem Chitinpanzer, tragen, ist eines der schreckhaftesten und unvorstellbarsten Bilder der Literaturgeschichte. Es ist die verkörperte Verwandlung urmenschlicher Ängste in eine Gestalt, die niemand gern in seiner Nähe haben mag.

So brechen denn auch die Familienstrukturen langsam, aber unmerklich mehr und mehr auf. Grete, Gregor Samsas Schwester, sowie auch seine Eltern sehen in ihm bloß noch einen ekligen Fremdkörper. Sie wissen nicht, wie sie mit ihm zusammenleben können und halten es schließlich für das Beste, ihn aus der Welt ihrer vier Wände zu verbannen. Gregor, der das Ansinnen seiner Familie bereits erahnt, ehe er es so richtig zu spüren bekommt, greift dem Wunschdenken seiner Familienmitglieder tragischerweise sogar noch vor. Indem er nichts mehr isst und trinkt, lässt er seinen Käferkörper langsam verdorren, und schließlich liegt er verhungert in seinem Zimmer.

Das Dienstmädchen bemerkt seinen Tod zuerst. Sie nimmt ihren Besen und stupst Gregors Leiche unsanft an. Was wie ein Horrorfilm daherkommt, ist in Wirklichkeit ohne Freud und ohne die gesamte Lektüre von Hugo von Hofmannsthal bis Nietzsche zuvor gar nicht denkbar. Kafka gelingt etwas, was niemand zuvor zu schreiben oder gar zu denken vermag. Im Käfer Gregor Samsas manifestieren sich Probleme, die jeder kennen wird. Ausgrenzung, Einsamkeit und Undankbarkeit – wer kennt sie nicht? Freud macht uns während der Entstehung von Kafkas Text darauf aufmerksam, dass psychische Vorgänge, gesellschaftlich kränkelnde Strukturen mit jedem Einzelnen in der Gesellschaft zu tun haben.

Kafka gelingt es, zwischenmenschliche Abgründe zu schildern, ohne dass er in irgendeiner Weise erregt oder pathetisch erscheint. So liest der Schauspieler Zehrfeld einen Text mit langen Sätzen, die uns gleichnishaft anspringen. Es geht nicht um das, was erzählt wird, sondern um das, was damit gemeint ist. Diese Herangehensweise an Literatur ist neu in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Ob Ronald Zehrfeld, der Schauspieler aus „Weißensee“, unbedingt eine Pause einlegen muss, als er sich manchmal verspricht, und von seiner Schauspielschule erzählen mag, es sei jedem aus der Zuhörerschaft selbst überlassen, wie er darüber denken mag.

Sagen wir mal, Zehrfeld hat einen beeindruckend ungezwungenen Zugang zum Text. Seine Suche nach Kakerlaken an der Decke des Kulturspeichers im Moment der kurzen Musikeinspielung mag für viele gerade das Besondere des Abends gewesen sein. Für manch einen verklang die Botschaft. Denn zweieinhalb Stunden Kafka und die Welt ist nicht mehr dieselbe. Zurückzufinden, umso schwieriger.



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