hw-Noch 90
Bad Homburg (ks). Daniel Kehlmann, Hölderlinpreisträger des Vorjahres, greift in seinem Drama „Heilig Abend“ ein Thema auf, das die Menschen umtreibt: die Angst vor Terroranschlägen. Sie steht ganz oben auf der Skala, wenn die Deutschen danach gefragt werden, wovor sie am meisten Angst haben.
In einem kargen Zimmer mit nur einem Stuhl, ohne Tisch und einem Besen, dessen Stiel als „Garderobe“ herhalten muss, wird die Philosophieprofessorin Judith (Jacqueline Macaulay) von Thomas (Wanja Mues) verhört. Es gibt ein Bekennerschreiben, wonach um Mitternacht am Heiligen Abend ein Terroranschlag verübt werden soll. Es ist 22.30 Uhr, und dem Ermittler bleiben genau 90 Minuten; mehr Zeit hat auch das Publikum nicht, um herauszufinden, wie die Sache ausgeht. Genau um 21.30 Uhr war dieses Stück ohne Pause zu Ende. So überraschend, dass der Beifall im Kurtheater erst verzögert einsetzte, denn der Ausgang bleibt offen.
Der Autor ist der Meinung, dass es „keinen Gewinner geben kann“. Dazu sind die Probleme der Zeit zu komplex. Nebenan wird Peter, der Ex-Mann von Judith, bereits seit zwölf Stunden verhört, tritt aber nicht in Erscheinung. Es geht darum, die beiden Verdächtigen gegeneinander auszuspielen und den wahren Schuldigen zu ermitteln. Thomas hat mit der Uhr einen starken Gegenspieler. Die leuchtet in Abständen immer wieder auf und mahnt zur Eile. Judith leugnet hartnäckig, etwas mit dem Bekennerschreiben und dem Anschlag zu tun zu haben. Ihr Computer habe gar keinen Netzanschluss. Sie ist empört, dass Peter so lange ohne Rechtsbeistand verhört wird. Das verletze die Prinzipien des Rechtsstaates, die im Verlauf des Verhörs noch mehrfach gebrochen werden.
Und genau hier liegt das Dilemma. Wie weit darf der Staat gehen, um einer latent vorhandenen Gefahr zu begegnen? Darf der schmale Grat überschritten werden, der zwischen dem berechtigtem Anspruch auf Schutz und einer unkontrollierbaren Beschränkung und Verletzung der Rechte des Einzelnen besteht? Ist damit nicht auch die Freiheit in Gefahr, wenn der Orwell’sche „Große Bruder“ überall präsent ist? Judith erlebt zu ihrem Erstaunen, dass Thomas sehr gut über sie, ihr Leben und ihre Aktivitäten Bescheid weiß und ihm auch Peters Lebenswandel bekannt ist. Sie gehören zur Gruppe der „Gefährder“, die überwacht werden. Judith beantwortet die meisten Fragen von Thomas, weicht aber aus, wenn es um die Bombe geht, die womöglich gezündet werden soll. „Es gibt gar keine Bombe“, sagt sie und behauptet sogar, das ganze sei eine „Übung“, die sie sich für ihre Studenten ausgedacht habe.
Fasziniert von „High Noon“
Sie verunsichert den Beamten immer wieder mit eigenen Fragen und verwirrt ihn mit der Behauptung, das System selbst sei so gewalttätig, dass Gegenwehr erlaubt sei. Judith ist fest davon überzeugt, dass ihr Ex Peter sie nicht verraten und ihr allein die Schuld geben wird. Dagegen gesteht sie selbst schließlich, dass das Bekennerschreiben von ihr stammt und auf Peters Computer geschrieben wurde. Dieser hatte das am Ende auch behauptet und war darauf frei gekommen. Trotzdem widmet Judith ihm das einzige Telefongespräch, das sie an diesem Heiligen Abend noch führen darf. Auf die erstaunte Frage von Thomas, warum sie ausgerechnet mit dem Verräter Peter sprechen wollte, antwortet sie: „Man muss sich im Leben entscheiden. Man muss sich für einen Menschen entscheiden.“
Die beiden Schauspieler haben ihren Part sehr gut und sehr authentisch ausgefüllt und die Spannung bis zum Ende aufrechtgehalten. Das ist auch Jakob Fedler zu verdanken, der in dieser Produktion des Euro-Studios Landgraf Regie geführt hat. Nach eigener Aussage hat Daniel Kehlmann der Kultfilm „High Noon“ zu diesem Stück angeregt. Diese Story habe er seit seiner Kindheit geliebt, vor allem wegen der „Echtzeit“, in der die Geschichte ablaufe. Das habe er nachahmen wollen. Allerdings wird der Zuschauer von heute mit mehr ungelösten Fragen nach Hause gehen als der Filmfreund damals.