Bad Homburg (a.ber). Die Gründung des deutschen Kaiserreichs als Nationalstaat im Jahr 1871 in Versailles war nicht allein das Werk des genialen, von König Wilhelm I. von Preußen geförderten Staatsmannes Otto von Bismarck. Die Nationalstaatsgründung wurde von einer im deutschen Bürgertum verankerten Sozialen Bewegung getragen, die in den Revolutionen von 1848/49 ihren Ursprung hatte. So die These, die der Historiker Professor Christian Jansen von der Universität Trier auf der Tagung „Das Kaiserreich vermitteln: Brüche und Kontinuitäten seit 1918“ vertrat.
Die zweitägige Internationale Konferenz, die die Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen gemeinsam mit der Frankfurter Goethe-Universität im Bad Homburger Schloss veranstalteten, holte – in Präsenz und online – zwölf Historiker, Kunstgeschichtler und Fachleute für Politische Bildung aus dem In- und Ausland an einen Tisch. Sie wollten aus Anlass des 150. Jahrestages der Reichsgründung der gegenwärtig teils scharf geführten Auseinandersetzung über das Erbe des deutschen Nationalstaates neue, produktive Impulse geben.
„Unser Verhältnis zu Bismarck, dem preußischen Militarismus und anderen Protagonisten jener Zeit hat sich in den vergangenen 50 Jahren entspannt“, sagte Christian Jansen in seinem Festvortrag „Nationalismus – Imperialismus – Obrigkeitsstaat – Demokratie. Warum soll man sich heute noch mit dem Kaiserreich auseinandersetzen?“.
Hätte Bundespräsident Gustav Heinemann in seiner Jubiläums-Rede 1971 die Reichsgründung noch als Weichenstellung hin zum Nationalsozialismus begriffen, „als abschüssige Bahn von Versailles 1871 über Versailles 1919 nach ‚Auschwitz, Stalingrad‘ und zur bedingungslosen Kapitulation 1945“, so habe in der Rede des aktuellen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier Anfang 2021 nicht mehr eine „historische Wahrheit“ über das Kaiserreich im Vordergrund gestanden, sondern die Ambivalenzen der Entwicklung nach 1871 und der „durchaus diskutable“ Vergleich zwischen dem Aufstieg des deutschen Kaiserreiches und heutigen globalen Entwicklungen.
Jansen machte deutlich, dass er den von Heinemann und führenden Historikern der alten Bundesrepublik als negativ gesehenen „deutschen Sonderweg“ seit 1871 nicht als historische Zwangsläufigkeit sehen könne: Otto von Bismarck hätte zwar in seinem Verfassungsentwurf von 1866 ein demokratisch zu wählendes Parlament vorgesehen, dessen Kompetenzen er als Reichskanzler ab 1871 dann äußerst geschickt begrenzte; doch habe Bismarck nicht alle liberalen Tendenzen bekämpft. „So arbeiteten die meisten Liberalen nach Bismarcks Sieg im Verfassungskonflikt mit ihm zusammen und stellten in vieler Hinsicht die Weichen für die Entwicklung des Kaiserreichs zu einem modernen Rechts- und Industriestaat“, so Jansen. „Anstatt Bismarck zum Reichsgründer zu überhöhen oder zum Dämon zu stilisieren, wie es die Sonderwegsthese gemacht hat, ist es sinnvoller, auch auf seine Misserfolge – zum Beispiel bei der Bekämpfung des politischen Katholizismus und der Arbeiterbewegung – zu schauen.“ In den Revolutionsjahren 1848/49 sei es bereits zu einer breiten Politisierung in allen deutschen Staaten und zur Idee eines deutschen Nationalstaates gekommen: „Man wollte zu einem ebenbürtigen Player im Kreis der Großmächte werden.“ Jansen widersprach der These früherer Forscher, die die Revolution als vollständig gescheitert ansehen. Der Trierer Historiker bezeichnete die nachrevolutionäre Epoche zwischen 1848 und 1871 als „Gründerzeit“: Hier entstanden alle Parteien, die im Kaiserreich eine Rolle spielten, sowie „politische Gründer von nationaler Bedeutung“ wie wissenschaftliche Fachverbände, Vereine der Turner, Schützen und Sänger. „Die meisten waren Achtundvierziger.“
Auch das allgemeine Männerwahlrecht war nicht mehr wegzudenken, wenngleich Bismarck dieses immer wieder torpedierte und schon vor 1871 Zivilcourage dazu gehörte, Oppositionelle zu wählen. Auch Kaiser Wilhelm I. hätte das Kaiserreich als „Obrigkeitsstaat“ verstanden, so Jansen. Doch hätten beide Akteure die Aufwertung des Reichstags und den Aufstieg modernerer Mitgliederparteien wie Sozialdemokratie und Zentrumspartei nicht verhindern können. „Die innere Nationsbildung war soweit fortgeschritten wie in kaum einem anderen europäischen Land“, formulierte Jansen.
Die Tagung im Schloss unter Leitung des Frankfurter Historikers Professor Torsten Riotte mit insgesamt 13 Vorträgen und vielen Diskussionen kreiste um Vorgeschichte, Schattenseiten und Modernität des Kaiserreiches und die heutigen Möglichkeiten didaktischer Vermittlung dieser Epoche. Namhafte Forscher aus Deutschland, den USA, Großbritannien und den Niederlanden tagten, unterstützt von der Kulturstiftung der Länder Berlin und der Hessischen Kulturstiftung an einem authentischen Ort jener Zeit: Beherbergt doch das Schloss als Sommerresidenz der letzten deutschen Kaiser das einzige noch original eingerichtete Kaiser-Appartement.