„So etwas wie Rente gibt es für mich nicht“

Vor gut 25 Jahren gründete Stella Deetjen ihren Verein „Back to Life“. Zahlreichen Menschen in Indien und Nepal konnte sie bereits helfen. Foto: Back to Life

Bad Homburg (mb). „Wir wollen doch einfach nur unser Leben zurück“ – diese Worte waren es, mit denen sich ein an Lepra erkrankter Mann 1994 im indischen Benares an die junge Stella Deetjen richtete. Mit nur 24 Jahren war sie alleine auf Rucksackreise in Asien. Nach der Reise wartete ein Ausbildungsplatz als Fotografin in Rom auf sie. „Ich wollte eigentlich auch nur ein cooles Leben, wollte Künstlerin werden“, sagt die gebürtige Friedrichsdorferin. Zum Jahreswechsel war sie auch diesen Winter wie immer in der alten Heimat – die optimale Chance, um anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Vereins „Back to Life“ das Erreichte und Geschehene zusammen mit Stella Deetjen Revue passieren zu lassen.

Wie ging ihre Geschichte in Indien also weiter? Als sie des Essens wegen schwere Magenkrämpfe erlitt und sich am Straßenrand in Indien vor Schmerzen krümmte, passierte das, was den Grundstein nicht für ihr Künstlerdasein, sondern für ihr Leben als Entwicklungshelferin und ihren drei Jahre später gegründeten Verein „Back to Life“ legen sollte. Ein alter, durch die Leprakrankheit entstellter Mann bot ihr Hilfe an – ausgerechnet jemand, den die indische Gesellschaft als „unberührbar“ abgestempelt und verstoßen hatte.

Eben berührt von dieser bedingungslosen Hilfsbereitschaft und Güte schwor sich die junge Frau, den Verstoßenen zu helfen. Wie wusste sie zunächst nicht. Dass Lepra eine heilbare Infektionskrankheit ist, war damals fern von Allgemeinwissen. Ihr Treueversprechen stellte sie aber sofort unter Beweis, als die indische Polizei sämtliche leprakranke Bettler und deren Familien verhaftete. Nach monatelangem Ringen mit indischen Behörden und trotz fehlender Kenntnisse der Landessprache Hindi schaffte sie es mit Hilfe eines indischen Journalistin, den Menschen wieder ihre Freiheit zu verschaffen. Ihre Aufgabe schien nun erfüllt. Anstatt aber zurück in ihr gewohntes Umfeld in den Taunus zu kehren, blieb sie und begann mit nur 100 Dollar Startkapital den Bau von Straßenkliniken und Kinderheimen für die Leprakranken und ihre Familien. Aus ihrem, wie sie ihn heute selbst nennt, „Full-Life-Job“ gab es plötzlich kein Zurück mehr. Im Laufe der nächsten 15 Jahre holte sie zahlreiche Erkrankte zurück ins richtige Leben – eben „back to life“. Diese Anfänge des Vereins und ihre Erfahrungen mit den Leprakranken in Indien hielt sie später in ihrer 2016 erschienenen Autobiographie „Unberührbar“ fest. Das habe sie sehr viel Zeit und Mühen gekostet. Auf die Frage hin, ob sie ihr nächstes Buch dann in der Rente schreiben wolle, lacht sie nur: „So etwas wie Rente gibt es für mich nicht.“

2006 bekam Stella Deetjen in New York einer ihrer wichtigsten Auszeichnungen von Michail Gorbatschow überreicht, den „Women’s World Hope Award“. Dank des Auftritts war sie auf einmal nicht mehr allein von Spenden aus der Heimat abhängig und hatte neue finanzielle Ressourcen. Das ermöglichte eine Ausweitung ihres Wirkungsraums. Ab 2009 wendete sie sich dann Nepal zu. Warum Nepal?

Die Kultur und Sprache seien sehr ähnlich zur indischen, aber die Armut um ein Vielfaches größer. Oftmals werde Nepal zwischen den beiden Supermächten Indien und China vergessen und bekäme höchstens für den Mount Everest Aufmerksamkeit. „Dabei hat dieser kleine Himalaya-Staat doch so viel mehr zu bieten!“, wie Stella Deetjen im Interview feststellt.

Auf Hinweis der Einheimischen fokussiert sie ihr Einsatzgebiet auf die besonders arme Hochgebirgsregion Mugu, später kommen dann noch die Regionen Chitwan und Nuwakot hinzu. In Mugu sei die Zeit wie stillgestanden gewesen, die Menschen vergessen und isoliert vom Rest des Landes.

Auf der über 3500 Quadratkilometer großen Fläche gibt es bis heute für knapp 66 000 Menschen nur ein Krankenhaus. Sanitäre Einlagen gab es damals sowieso keine, der Zugang zu sauberem Wasser oder Strom blieb allen verwehrt. Schon eine leichte Magen-Darm-Erkrankung konnte für viele den Tod bedeuten. Die Mütter- und Kindersterblichkeitsrate war extrem hoch. Grund dafür war vor allem die religiös bedingte Tradition Chhaupadi, nach welcher Frauen nicht im Haus bluten dürfen und ihre Kinder deshalb im Kuhstall oder im Wald unter schrecklichsten hygienischen Bedingungen zur Welt bringen müssen.

Dieser Herausforderung nahm sich Stella Deetjen an und etablierte schnell ein Team aus lokal ansässigen nepalesischen Frauen und Männern, die über die notwendige Expertise verfügen. „Nur, wer die Bedürfnisse und Nöte der Menschen am Ort kennt, kann wirksame Entwicklungshilfe leisten“, so Deetjen. Besonders wichtig sei es, die Menschen in die Planung miteinzubinden und ihnen das notwendige Handwerkszeug zu geben, um sich langfristig selbst zu helfen. Dieses Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird in Mugu ganz pragmatisch umgesetzt – egal, ob es die Schamanen sind, die den Bau von Geburtshäusern mitkontrollieren, die jungen Männer, die Stipendien für die staatlich anerkannte Ausbildung im Agrarbereich bekommen, oder die nepalesischen Frauen, denen die Hebammenkunst beigebracht wird.

Wie gut dieses System funktioniert, beweisen die Zahlen: Bis jetzt konnten Stella Deetjen und ihr Team 15 Geburtshäuser und 37 bestens ausgestattete Schulen bauen. Über 26 800 Kinder profitierten bereits von den Bildungsmaßnahmen, die der Verein initiierte. Fast 8000 Menschen haben durch simple mechanisch funktionierende Filtersysteme Zugang zu sauberem Wasser. Mit kleinen Solarlichtern, die gleichzeitig Strom erzeugen, und rauchfreien Öfen in den einfachen Privathäusern wird nicht nur CO2 eingespart, sondern auch Lunge und Atemwege der Bewohner werden geschont. Ob es auch mal einen Moment gab, in dem die Entwicklungshelferin ans Aufgeben dachte? Nicht wirklich. Die große Verantwortung spürte sie allerdings vor allem 2015 während des starken Erdbebens in Nepal, das fast 9000 Leben einforderte und ein Großteil des Landes in Schutt und Asche legte. Auch die nächste Krise – die Coronapandemie – war für das stark unterentwickelte Gesundheitssystem des Landes und somit auch für die Menschen in Mugu eine riesige Herausforderung. Aber mit der entsprechenden Katastrophenhilfe, Medikamenten und Sauerstoffgeräten wurden diese Hürden ebenfalls überwunden.

Damit die Infrastrukturprojekte weiterhin gefördert und bewahrt werden können, hat Stella Deetjen vor Kurzem die Back to Life gemeinnützige Stiftungsgesellschaft gegründet. Keine projektgebundenen, sondern regelmäßigere und größere Spenden erlauben eine längere Haushaltsplanung, die auch plötzliche Spendeneinbrüche, wie Deetjen sie zu Beginn des Ukraine-Kriegs zunächst befürchtet hatte, übersteht. Ihren Fokus möchte die Vereinsgründerin weiterhin vor allem auf den Trinkwassersystemen und gemäß der UN-Nachhaltigkeitsziele auf den Ausbau der sauberen Solarenergie richten.

Die Energie und Beharrlichkeit, stets neue Projekte anzugehen, ziehe sie immer wieder aus dem Wissen um die einzelnen Leben der Menschen in Mugu, die „Back to Life“ zum Besseren hat ändern können. Die Lebensumstände seien natürlich weiterhin ärmlich, aber anstatt sich ständig zu beschweren und Probleme zu „zerreden“, würden die Nepalesen einfach lachen. Davon könnte sich Deutschland etwas abschauen: „Die Gelassenheit und Freude an den kleinen Dingen würde ich von Nepal manchmal gerne nach Deutschland rüber transportieren.“



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