Tobias Moretti liebt die ganz große Geste

Tobias Moretti hat bei den Salzburger Festspielen und in Bad Homburg beim Poesie- und Literaturfestival mit Shakespeare-Texten sein „höheres Glück“ gemacht. Foto: nl

Bad Homburg (nl). Sein Blick besitzt Magie, würden vielleicht die einen sagen, während den anderen am Auftaktabend des Bad Homburger Poesie- und Literaturfestivals auffällt, wie sich Eintauchen in die Figurenwelt Shakespeares anfühlt. So gesehen ist dies keine Lesung. Es ist mehr. Mit einem Schauspieler wie diesem hält die große Geste, das große Theater in der Erlöserkirche Einzug.

Noch begrüßen Oberbürgermeister Alexander Hetjes und Bernd Hoffmann, der Festival-Veranstalter, das dicht an dicht im eng bestuhlten Kircheninneren sitzende Publikum, das immerhin bis zu 72 Euro für diesen Abend gezahlt hat. Tobias Moretti ist da noch nicht zu sehen, aber schon jetzt unüberhörbar. Mitten in die Vorankündigung vom kommenden Ereignis, der Feier des diesjährigen Hölderlinpreisträgers, hallt ein raumgreifendes Räuspern theatralisch und gut getimt aus dem Hintergrund.

Alexander Hetjes hatte da schon sein Wort an den „gut aussehendsten Mann dieses Abends“, wie er befand, an Kurdirektor Holger Reuter, übergeben. Dass die Poesiefestivalkarten einer anderen Veranstaltung nahezu vollständig an ein weibliches Publikum verkauft worden sind, kann dieser noch eben konstatieren. Doch mehr Zeit bleibt ihm nicht.

Es ist der überraschende Moretti-Moment. An diesem Abend der erste und natürlich nicht der einzige. Mit den acht Mitgliedern des Ensembles „wood sounds“ macht Moretti kurzerhand und ohne großes Tamtam den Altarraum für die nächsten anderthalb Stunden zu seiner Bühne. Nach den ersten Musikklängen deutet er mit ausladender Geste nach rechts und links. Es ist seine ganz spezielle Art, alle Beteiligten des Abends vorzustellen. Wer kurz geglaubt hat, zunächst jeden einzelnen Musiker mit Namen kennenzulernen, versteht jetzt, hier gibt es kein Abgleiten ins Förmliche und Formelle. Morettis Welt ist nicht von hier. Sie ist das Drama; und das duldet keinen Entzug. Fantasie wird vorausgesetzt. Der Schlagzeuger hält ein Pappschild hoch. Darauf seine Rollenbezeichnung: „Wand“. Pyramus und Thisbe, das Liebespaar, das Shakespeare in „Romeo und Julia“ adaptiert, verkörpern die Oboistin zur Rechten zusammen mit einem der Musiker zur Linken. Das alles geht so rasant schnell, dass Blicke so schnell gar nicht folgen können, wie Moretti denkt und an diesem Abend in der Kurstadt wirkt.

Vom kleinen Lesetisch nimmt sich die Sogkraft im Kirchenraum schon längst die hinterste Stuhlreihe, da hat Moretti gerade mal erst Platz genommen und in seinem Text geblättert. Mit beiden Armen abgestützt, beugt er sich plötzlich vor, stiert der Flucht des breiten Kirchengangs entgegen. Es scheint kurz, als habe der große Moretti in der Sekunde und völlig entrüstet einen zu spät gekommenen Literaturfan in die Veranstaltung hineinplatzen sehen.

Es ist sein Inneres, das Tobias Moretti für 90 Minuten, für die Dauer eines Actionfilms, ganz William Shakespeare zur Verfügung stellt. Den Texten, den Figuren, der Zeit. Den TV-Star zu beobachten, bedeutet, in seinen Blicken einen ganzen Bühnenraum wahrzunehmen. 1616 starb der Dramatiker. Doch die Liebe bleibt die Liebe, der menschliche Schmerz derselbe. Und der Schauspieler schlägt diese Brücke ins Hier und Jetzt. Klettert auf die Kanzel, baumelt für einige Sekunden dort wie leblos mit hängendem Oberkörper. Rot vor Zorn rezitiert er einen Text, in dem es um grenzenlose, ausufernde Wut und eigentlich wie in jedem seiner vorgetragenen Texte um das große Ganze geht. Die zeitgenössische Purcell-Musik trennt die Textsequenzen. Trennt Ovid von Homer; und damit Shakespeares Interpretationen, wie die von Odysseus und den Sirenen, denen nur der griechische Held auf seiner großen Reise zu Penelope entsagen konnte. Es ist die Reise zu sich selbst. Und so wird dieser Abend mit den beiden Großen – mit Shakespeare und Moretti – zu einer sagenhaften Herausforderung.



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