„Kann es sein, dass ich einen Unhold in meiner Seele trage?“

Dr. Jekyll & Mr. Hyde (Thorsten Morawietz) und seine Geliebte Constance (Simone Greiß) ringen um Klarheit und Dunkelheit. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Vorhang auf und rein ins Wirrwarr! Auf der Chaiselongue liegt eine Tote, das Bühnenbild wirkt desolat und die Tür zum Fluchtweg klemmt, die Stimmung ist leicht entzündlich wie die Flasche mit Benzin, aus der sich die Schauspieler immer wieder Mut antrinken. Die Dramatische Bühne Frankfurt bietet bei der letzten Theateraufführung des diesjährigen „Bad Homburger Sommers“ im Kurpark mit ihrem neuesten Stück „Dr. Jekyll & Mr. Hyde – The play that totally goes wrong“ eine glänzende Parodie der berühmten Novelle von Robert Louis Stevenson. Die Aufklärung eines Mordes wird zum vielschichtigen Vexierspiel von sieben viktorianisch gekleideten Protagonisten, die die Wahrheit ergründen wollen und dabei immer mehr verbergen und verwirren, verblenden und verblöden. Das zahlreich auf der Rasenfläche vor dem Kaiser-Wilhelms-Bad sitzende Publikum wird nicht nur bestens unterhalten durch die Darstellung der Absurdität des Lebens adeliger schottischer Möchtegerne mit ellenlangen Namen und deren Bediensteter. Es erfasst auch instinktiv, dass die Suche nach Wahrheit generell ganz schön heikel für den Menschen werden kann.

Angelehnt an Stevensons „Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und des Herrn Hyde“ aus dem Jahr 1886 textete und inszenierte Regisseur Thorsten Morawietz für sein spritziges Theaterensemble diese „broken scene“ so raffiniert, dass das moderne Stück noch lange im Zuschauer nachwirkt. Eigentlich geht es um Dr. Jekyll, der ein dunkles Geheimnis in sich fühlt und einen Trank erfindet, der Dämonen weckt und ihm eine Wandlung ermöglicht – „Kann es sein, dass ich einen Unhold in meiner Seele trage?“, kokettiert Dr. Jekyll (Thorsten Morawietz) mit seinem mordlustigen „zweiten Ich“ Mr. Hyde. Und wer ihn erlebt – wie die Dame Countess Constance (Simone Greiß), Inspektor Ivingston (Julian W. Koenig) oder die Dienstmagd Violet (Jeannette Treusch) – und hinter seine Fassade blicken will, bringt den exaltierten Jekyll mit seinen fliegenden weißen Frackschößen in Rage: Damit seine eigene Doppel-Identität, sein gespaltener Charakter, nicht auffliegt und der Mord unaufklärbar bleibt, treibt Dr. Jekyll die anderen fast in den Wahnsinn. Man wird hysterisch, hört Stimmen aus dem Off und Schreie, und versucht verzweifelt, den Halt an der Wirklichkeit nicht zu verlieren. Während Inspektor Ivingston sich an Tagebuch-Eintragungen und Telegramme klammert, um den Fall zu begreifen, beschwört Constance Liebe und Erinnerung als authentische Kräfte, und Violet den einfachen klaren Verstand des Menschen. Schauspielerisch herrlich gekonnt sind die Szenen, in denen alle auf der Bühne, einig in der Ansicht, die Musik sei heilsam in solch verwirrenden Situationen, zur Laute singen, um ihre Ängste zu vertreiben. „Musik! Sie befreit uns von den Zwängen der Wirklichkeit!“ Aber auch die Musik verselbständigt sich, wird unfassbar bedrängend.

Doch ach! Was in der modernen Psychologie „Gaslighting“ genannt wird, die Manipulation des Bösen, greift um sich, eskaliert in Gewalt: Der Assistent des Inspektors wird attackiert, Dr. Jekyll sticht Diener Nicolas nieder – keiner darf ihm auf die Schliche kommen, die Dunkelheit muss triumphieren. Am Ende tritt eine zweite Constance auf, die zeitgenössische Version der viktorianischen Person, und verwirrt nun ihrerseits Jekyll mit aktuellen Stau-Informationen „auf der 661 vor Bad Homburg“. In Jekylls verzweifeltem Wunsch, die Liebe von Constance möge ihn von seiner Schuld befreien, gipfelt das Stück dramatisch. Der Regisseur zieht in „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“ alle Register: Von Satire, Witz und Theatralik über Illusion und symbolhafte Bühnentechnik – mal spielen sie im Zwielicht des Geheimnisses, mal wird die Wahrheit hell ausgeleuchtet – bis hin zu moderner Gossensprache und lachhaften Regieanweisungen, von den Schauspielern selbst eingestreut. Ein Feuerwerk fürs Gehirn, anregend philosophisch. Des Menschen Innenwelt und seine Außendarstellung: alles vorgespielte Heuchelei? Sollen wir überhaupt auf Teufel komm raus hinter die Fassade des Anderen schauen? Wer garantiert uns, dass wir dabei nicht den Verstand verlieren, wenn wir der Wahrheit ins Gesicht blicken? Wer kann uns im Leben die richtigen Regieanweisungen geben und was nur ist der wahre Text unseres Lebens? Die Figuren und der Mordfall versinken am Ende wieder im Dämmerlicht. Faszinierend ist die Fähigkeit zur Verdrängung ins Unterbewusstsein. Und keine Angst vor Oberflächlichkeit, denn: Alles ist Theater!



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