Bad Homburg. „Schuhu! Schuhu!“ Ein kleiner Junge mit dicken Stiefeln, Matschhose und Wollmütze läuft um den Kreis und flattert mit den Armen. „Eine Eule!“ rufen gleich mehrere der 17 Kinder, die im Hardtwald beim Pilgerrain auf einer Lichtung stehen. Das Hallo-Lied haben sie sich zur Begrüßung an diesem Morgen von Erzieherin Katja Henkel gewünscht, die mit im Morgenkreis steht: Dabei geht es um das Erraten von Tieren. Bei vier Grad Celsius scheint die Sonne durch die noch unbelaubten Bäume, die Kälte stört niemanden.
Fröhlich mimt ein Kind nach dem anderen Wolf, Taube, Mäusebussard – die Kleinen zwischen drei und sechs Jahren lassen sich nicht lumpen: Sie kennen sich aus mit Waldtieren, von der Spinne bis zum Fuchs. Eva Schrader, die Leiterin des Kindergartens, steht daneben, schiebt ihren Hut zurück und hält das Gesicht in die Sonne. Der Verein „Bad Homburger Waldkinder“ mit seinem Waldkindergarten feiert in diesem Jahr 25-jähriges Bestehen, und außer dem Wald selbst als Kontinuum ist es vor allem diese Erzieherin der ersten Stunde, die seit 1997 das Zusammenspiel zwischen Natur und Kindern fördert.
Eva Schrader wirft einen Blick auf ihren grünen 80-Liter-Rucksack, in dem Umziehkleider für die Kinder, Seile, Werkzeuge und anderes Material verstaut sind und den sie gleich schultern wird, um mit der Gruppe den Waldweg Richtung Kirdorf einzuschlagen. Aber erst stimmt sie Lieder von Veilchen und Gänseblümchen an. Schon um 8 Uhr hat sie mit den ersten eintreffenden Mädchen und Jungen beratschlagt, welchen Platz sie heute ansteuern und erobern wollen. Die Auswahl ist groß, mehr als 25 Spielräume hat der Waldkindergarten im Forst, „das entscheiden wir immer spontan, je nach Wetter und Ideen der Kinder“, sagt die ausgebildete Wald- und Motopädagogin, die im Februar 1997 vom neu gegründeten Elternverein Bad Homburger Waldkinder engagiert worden war und damals mit neun Dreijährigen und zwei weiteren Erzieherinnen das Kindergartenkonzept nach dem Flensburger Modell startete.
Dass das Waldkindergarten-Modell, geprägt von Kreativität, Freiheit und Naturverbundenheit, bis heute ein Erfolg ist, freut nicht nur die bis zu 25 Kinder, die der Kindergarten aufnehmen kann, sondern auch die Eltern. Cora Brand, Vorsitzende des Vereins, und Christine Höllwarth vom Förderverein haben beide Kinder, die an diesem Morgen auch eifrig dabei sind. „Man denkt in den ersten Tagen: O Gott, bei jedem Wetter – man lässt das Kind im Regen im Wald!“, beschreibt Christine Höllwarth ihre Anfangsgefühle. „Aber es sind für unsere Kinder, die auch reizüberflutet sind durch Spielzeug und anderes, jeden Morgen fünf Stunden Ruhe, raus aus der Hektik, rein in die Fantasie“, so Cora Brand.
Kindergarten-Leiterin Eva Schrader beschreibt das Verhalten von kleinen Kindern in der Natur aus ihrer langen Erfahrung noch drastischer: „Als Erzieherin mit zehn Jahren Engagement in einer Regeleinrichtung mit 25 Kindern in Oberstedten hatte ich gemerkt, wie Streit, Lärm und Anspannung dort sich immer dann legten, wenn wir mit der Gruppe einen Waldspaziergang gemacht haben: Man erlebt plötzlich Kinder, die miteinander reden, sich unterstützen, Sozialverhalten und Sprache werden draußen anders, ohne dass ich eingreifen muss. Ich hatte massenweise Spielideen im Kopf, Bastelangebote – aber im Wald läuft das nicht so. Man wird da von den Kindern als Erzieherin am Baum geparkt. Wir Waldpädagogen gucken und helfen bei Problemen, aber sonst kommt von den Kleinen das Signal: Halt dich da raus!“
Auch im Wald herrscht Disziplin
Natürlich gebe es immer wieder auch Kinder, die einen Animateur brauchten. Und Regeln für alle gebe es selbstverständlich: „Zack! Stehenbleiben an Kreuzungen im Wald! Auch im Wald ist Disziplin gefordert“, schmunzelt die ebenso resolute wie humorvolle Pädagogin. Katja Henkel fordert die Disziplin an diesem sonnigen Morgen auch mehrfach ein, ebenso wie Praktikant Marvin Maier, der gerade sein waldpädagogisches Praktikum im Rahmen der allgemeinen Erzieherausbildung beim Waldkindergarten absolviert. „Ich finde das Konzept gut, weil die Kinder im Wald sich selbst erfahren können, der Erzieher nicht dazu da ist, die Kinder zu unterhalten – die Kinder unterhalten sich selbst mit dem Wald“, sagt Maier.
Auf dem Weg zum Spiel-Platz, wo aus Ästen schon ein „Stuhlkreis“ gelegt ist und um 10 Uhr nach der Freispielzeit auf dem Waldboden gesungen und gefrühstückt wird, sammelt eine Kleine mit Sternenmütze gleichlange Stöckchen und unterhält zwei andere Kinder dabei mit einer Fantasiegeschichte; drei Jungs springen über alle Pferdeäppel auf dem Weg; ein Mädchen mit rosa Einhornmützchen erzählt von ihrem „Geheimplatz“ und schleppt an der Hand einen kleineren Kollegen mit; die derzeit Jüngste der Gruppe hat einen riesigen Stock aufgehoben, und drei Kinder überlegen, ob sie ihn jetzt mitschleppen sollen und nehmen schließlich lieber die Jüngste ohne den Stock in ihre Mitte, damit der Weg nicht so lang für alle wird.
Eva Schrader bleibt an einer großen Pfütze stehen, alle bücken sich und betrachten das Wasser: „Nicht mit dem Stock in die Pfütze, da sind doch Tiere drin, schau doch!“, ermahnt sie einen Wichtel, der im Wasser herumstochern will. Waldpädagogen erklären Kindern auch Prozesse im Wald, richtiges Verhalten in der Natur, leiten zum Forschen an. „Die Kinder kennen Stechmücken, Zecken, Salamander, Vögel und können Dachs-Spuren entdecken“, sagt Schrader. Sie, die mit dem Verein Bad Homburger Waldkinder vor 25 Jahren die erste solche Einrichtung im Rhein-Main-Gebiet gegründet hatte, gibt ihr Wissen als Referentin immer wieder an andere Einrichtungen und Kindergarten-Akademien weiter. Wissen hin, Wissen her: Der Forscher- und Entdeckerdrang steckt einfach schon in den Kleinsten und findet im Wald von selbst besten Nährboden. Zehn Kindergartenkinder erstürmen gerade eine staubige Riesenwurzel: „Jetzt aktivieren wir den Vulkan! Naturkatastrophe! Ich mach den Rauch! Flugzeuge dürfen nicht mehr fliegen!“, tönt es von der meterhohen Wurzel herunter, die einige ältere Jungen besetzt halten.
Praktikant Marvin Maier weist kleinere Kinder, die mittun wollen, auf Gefahren hin – den Streit, der unter den Eroberern der Wurzel ausbricht um einen großen Stock, mit dem man besonders viel Staub aufwirbeln kann, lösen die Kontrahenten selber. „Ich brauche jetzt Glück, damit ich nicht runterfalle“, meint einer von ihnen und spricht damit für alle. Nach Stunden im Wald ist der Hunger dann groß, und auch die zwei kleinen Köchinnen, die auf Baumstümpfen mit alten Blättern und Erde gekocht und Streuselkuchen für die Mäuse gebacken haben, packen eifrig ihr mitgebrachtes Vesperbrot aus. Um kurz vor Zwölf wird von den Erzieherinnen eine Geschichte vorgelesen – „14 Tage immer das selbe Buch, denn Kinder haben ein Wiederholungs-Bedürfnis“, lacht Eva Schrader. Den Rückweg zur Kinzigstraße, wo der Verein eine Wohnung angemietet hat, laufen alle gemeinsam; dort werden manche Kinder von ihren Eltern abgeholt, andere bleiben zum Mittagessen und bis 15 Uhr – viel Betrieb ist dann. Der Waldkindergarten, als integrative Einrichtung auch von der Stadt finanziell gefördert, könne erst 2024 wieder neue Kinder aufnehmen, so Schrader, die Liste der Anfragen sei lang. Expandieren könne man nicht, dazu sei der Hardtwald dann doch zu klein.
„Für uns alle ist es ein großes Glück, dass wir den Stadtwald nutzen dürfen. Der Förster erlaubt uns als Waldkindergarten, ins Unterholz zu gehen, das ist ein Privileg in einem Wald, der so hochfrequentiert ist als Erholungswald und wo alle anderen Spaziergänger und Besucher auf den Wegen bleiben müssen. Förster Busch macht uns auf Nistplätze von Raubvögeln und gefällte Bäume aufmerksam, die wir meiden sollen. Wir selber achten darauf, Spiel-Plätze, die wir benutzt haben, dann mehrere Wochen nicht zu betreten, um den Boden nicht zu verdichten.“ Dass Eva Schrader und ihre Kolleginnen außer bei Gewitter und Sturm bei jedem Wetter mit den Kindern im Wald unterwegs sind, auch das ist ein Glück für die Kinder: Denn was gibt es Schöneres, als morgens unter Bäumen zu spielen und zu singen?
!Der Waldkindergarten mit seinem Trägerverein Bad Homburger Waldkinder feiert seinen 25. Geburtstag am Samstag, 7. Mai, zwischen 11 und 16 Uhr auf dem Spielplatz Hardtwald am Seulberger Fahrweg mit einer Tombola, Walderlebnis-Stationen für Familien, Kasperletheater und Speis und Trank. Oberbürgermeister Alexander Hetjes und weitere städtische Vertreter haben sich angesagt.