Zwischen Traum und Realität der Goldenen Zwanziger

Von Menschen in einer zerfallenden bürgerlichen Welt: Der Schauspieler Devid Striesow liest beim 13. Bad Homburger Poesiefestival im Steigenberger Hotel aus Vicki Baums Roman „Menschen im Hotel“. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Man sitzt in der Hotel-Lobby eines Luxushotels. Zwischen geigenschmachtenden Tönen und Gläserklirren und dem „zarten Sausen“ der Seidenkleider vorbeigehender Frauen hört man draußen die „autohupende Stadt“ Berlin, das Grundrauschen der Goldenen 1920er-Jahre. Drinnen Hotelgäste: Da suchen sich Vereinsamte und Sehnsüchtige, Aufschneider und Betrüger, Morphiumsüchtige und Suizidgefährdete – ein Panorama der bürgerlichen Gesellschaft, deren Individuen sich in der Anonymität der aufziehenden Massengesellschaft zu verlieren drohen.

Der Impetus der Zuhörer, die ins Bad Homburger Hotel Steigenberger gekommen waren, um im Rahmen des 13. Bad Homburger Poesiefestivals Devid Striesow aus dem Roman „Menschen im Hotel“ lesen zu hören, war zumindest dem Antrieb der von Romanschriftstellerin Vicki Baum beschriebenen Menschen zur Begegnung im Hotelfoyer nicht ganz unähnlich. Wer sucht nicht nach Coronavereinsamung und Entbehrung gesellschaftlicher und kultureller Gemeinschaftserlebnisse und angesichts heraufziehender existenzieller Krisen einfach das Miteinander? Der preisgekrönte Schauspieler Devid Striesow, aus mehr als 120 Kinofilm- und Fernsehproduktionen bekannt, versetzte sein Publikum in die Berliner Welt vor 100 Jahren, genial detailreich beschrieben von der österreichisch-jüdischen Autorin.

Vicki Baum (1888-1960), eine der meistgelesenen Romanautorinnen der Weimarer Republik, fand nach der Veröffentlichung ihres Erfolgsromans „Menschen im Hotel“ 1929 rechtzeitig den Absprung aus Nazi-Deutschland, blieb nach der Verfilmung des Buches 1931 in Hollywood dort und wurde amerikanische Staatsbürgerin. Vielleicht gelang ihr dieser Sprung in eine neue Existenz so hellsichtig früh, weil Vicki Baum eines unübertroffen gut konnte: genau hinsehen und sich damit der vereinnahmenden Masse entziehen. Ihre von Gesellschaftskritik durchzogenen Charakterstudien sind von manchen Kritikern als klischeehaft und sentimental abgetan worden – aber die Lesung mit Devid Striesow und die amüsierten Reaktionen der Zuhörer im Steigenberger Hotel bewiesen: Unter den literarischen Zeichnungen der vom Leben Gezeichneten und Ausgespuckten, die Klischees und Sentimentalitäten nutzen zur Erzeugung von Übereinstimmung der Leser und Hörer, lauert die menschliche Wahrheit. Die schmerzhafte Wahrhaftigkeit von Leben und Scheitern. Eigentlich sind Vicki Baums Charakterstudien literarische Karikaturen im besten Sinne, und so sah es wohl auch der „Literatur-Freak“ Striesow, der an vielen Stellen der Lesung selbst ins Schmunzeln kam und laut mitlachte.

Ob es der wichtigtuerische sterbenskranke Buchhalter Kringelein war, der „noch etwas vom Leben haben möchte“ und die depressive abgehalfterte Tänzerin Grusinskaja begehrt, die sich als launischer Hotelgast ihrerseits mit dem betrügerischen und kriminellen Baron von Geigern einlässt, der, „ein Zwischending von einer Wildkatze und einem leichten Jungen“, tänzelnd wie ein Boxer auf der Straße hinter Damen her ist; oder der herrschsüchtige Generaldirektor Preisinger, der angesichts des Untergangs seines Firmen-Lebenswerks Zuflucht in Trickserei und Lüge sucht und den eine Pornodarstellung der brav-biederen Hotel-Schreibkraft „Flämmchen“ in Erregung versetzt: Devid Striesow, der Gefühl für schillernde und scheiternde Menschen hat, las die Passagen munter, verschmitzt und mit bis in die Körperhaltung reichendem Ausdruck. Man war angenehm abgelenkt vom gegenwärtigen Krisenmodus. Dass Vicki Baum kein plattes Happy End für alle anbietet, sondern zwischen Traum und Wirklichkeit der Goldenen Zwanziger Individuen unter die Lupe nimmt, ließ aufmerken.

In jeder Krisenzeit hat der Mensch die Wahl, sich vom Mainstream mitnehmen zu lassen oder den Blick auf das Individuum zu priorisieren.



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