„Mein Glaube an die Humanität ist machtlos.“

Alfred Ill (Eric Lenke) fühlt sich bedroht durch die Forderung von Ölmilliardärin Claire Zachanassian (Christine Tannert) und rastet aus. Seine Verzweiflung gipfelt in diesem Akt, doch er lässt ab und ergibt sich im Laufe des Stücks in sein nicht in seinen Händen liegendes„Schicksal“. Die Gier siegt über Moral und Humanität.Foto: Sven Tränkner

Kelkheim (ju) – Güllen – ein heruntergekommenes Dorf irgendwo im Nirgendwo mit verarmten Bürgern und Fabrikruinen, die von besseren Zeiten zeugen, wird zum Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte, die von Gerechtigkeit, Schuld, Rache und der Verlogenheit der bürgerlichen Moral erzählt.

„Der Besuch der alten Dame“

Friedrich Dürrenmatts tragische Komödie „Der Besuch der alten Dame“ beginnt ganz harmlos am Kelkheimer Kulturbahnhof in Münster, der sich in die Bahnstation der Kleinstadt Güllen verwandelt. Die Zuschauer sind mittendrin, werden in der Inszenierung des Kelkheimers Volker Zill zu Bürgern dieser Stadt, die auf die gealterte Milliardärin Claire Zachanssian warten, die nach über 40 Jahren in ihre Heimatstadt zurückkehrt. Am heruntergekommenen Bahnhof von Güllen sehnen sie die reiche Dame herbei, die mit ihrem Geld der Stadt und seinen Bürgern zu neuem Glanz verhelfen soll. Und sie kommt mit Geld und einem Sarg im Gepäck und verspricht eine Milliarde – unter einer Bedingung – die für Nichtkenner des Stückes hier erstmal nicht verraten wird.

Das Groteske greift um sich

Das Groteske ist es, was dieses Stück zu etwas Besonderem macht. Viele Dinge, die im Alltag unwahrscheinlich oder nur im extremen Einzelfall möglich sind, tauchen in diesem Stück auf. Dürrenmatts und auch Volker Zills Einfälle, der sich in seiner Inszenierung nicht immer haarklein ans Buch hielt, sind vom Grotesken bestimmt. Die Ankunft der Milliardärin mit ihrem 8. Ehemann, den sie noch in Güllen gegen Ehemann 9 austauscht und anreisen lässt – grotesk. Dass sie einen schwarzen Panther und einen Sarg mit sich bringt, ist schockierend und grotesk. Zumal der Panther, nachdem er ausbricht und frei rumläuft von der Güllener Bevölkerung gejagt und erlegt wird – ein Sinnbild für das Güllen, das Jagd macht – nach dem schnellen Geld und einem Mann. Früher war es ein Ort mit kultureller und humanistischer Tradition. Der verarmten Stadt ist davon nichts mehr geblieben. Die hohen Ideale und (schön-)geistigen Werte haben nur scheinbar einen Effekt auf die Bewohner und verblassen angesichts der Möglichkeit, zu materiellem Wohlstand zu gelangen.

Dass Zachanassian zusätzlich fast nur noch aus Prothesen besteht, ist kaum vorstellbar und grotesk. Das Groteske gipfelt schließlich in der Milliardenspende als Waffe eines angestifteten Mordes (Vorsicht Spoiler). Das Städtchen scheint wie befallen, versucht nach außen die Fassade des moralisch, humanistisch Unantastbaren zu wahren und fault doch von innen. Die Zuschauer geraten mit in diesen Strudel aus falsch verstandener Loyalität, Gier, Rache, Selbstzweifeln, Wut, Resignation und dem Wunsch mehr zu sein, als man ist.

Gekonnte Inszenierung

Das Ensemble um Kolonialwarenhändler Alfred Ill (Eric Lenke) und Claire Zachanassian (Christine Tannert) überzeugt mit ausgewöhnlichem schauspielerischen Talent. Was im Frühjahr mit den ersten szenischen Proben mit absoluten Schauspielanfängern bis hin zum professionellen Schauspieler begann, wuchs sich zu einem Schauspiel aus, das auch größere Theatersäle füllen könnte. Aber dann würden die Einfälle von Volker Zill nicht mehr greifen – die Szenen, die draußen vor dem Bahnhof spielen, der Weg in den Park, in dem die Zuschauer als Bäume mitwirkten und versteckt hinter Zweigen dem Geplänkel der beiden Hauptdarsteller folgen konnten, der Ausmarsch der Protagonisten mit dem Sarg aus dem großen Tor des Kulturbahnhofs. Sie alle waren Teil einer besonderen Inszenierung, ohne sie wäre das Stück eines von vielen, das irgendwo aufgeführt wird. Doch so entstand eine Verbindung zwischen Schauspielern und Zuschauern, es schien, als habe Zill die Zerrissenheit und oftmals auch erschreckende Erkenntnis, die sich in einigen Gesichtern der Zuschauer abzeichneten, miteinkalkuliert, gar provoziert.

Er versteht es exzellent, die moralische Verkommenheit zu präsentieren, und sei es nur durch kleine Spitzen, wie zum Beispiel dem Namen des Journalisten, der ungefragt die Darstellung des Bürgermeisters übernimmt – er heißt in dem Stück Relotius (ein ehemaliger Spiegelredakteur, der mit selbst ausgedachten Reportagen aufflog). Nur ein weiteres Mosaiksteinchen im großen Puzzle.

Und am Ende? Bleibt man als Zuschauer geschockt, nachdenklich und eventuell auch geläutert zurück. Und auch irgendwie befriedigt – weil man in den Genuss eines nicht ganz alltäglichen Stückes gekommen ist!

Leider ausverkauft

Wer jetzt neugierig geworden ist und das Stück gern sehen möchte, muss leider enttäuscht werden. Schon jetzt sind bereits sämtliche Vorstellungen komplett ausverkauft. Nachrücker-Karten gibt es nur noch direkt an der Abendkasse, falls reservierte Karten dort nicht abgeholt werden.

Volker Zill: „Wir prüfen gerade, ob es gegebenenfalls möglich ist, weitere Zusatzvorstellungen anzubieten oder das Stück zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufzunehmen.“

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