Verdrückte Bedrückte
Anonyme Leserbriefe sind immer ein Ärgernis, auch und gerade ,wenn sie für Ruppertshain als Ganzes zu sprechen scheinen. Das offene Visier würde auch den „bedrückten Ruppschern“ gut zu Gesicht stehen, zumal in einem demokratischen Gemeinwesen. Eine Sorge kann man den Bedrückten nehmen: Nein, sie sind nicht schuld an der zwei Jahre dauernden Straßenbaumaßnahme, für die das Land Hessen als Baulastträger und der Bügermeister der Stadt Kelkheim als Ortspolizeibehörde für die Verkehrsregelung verantwortlich ist. Die Baumaßnahme verschärft die schon zu konstatierenden Engpässe in der Grundversorgung erheblich. Als ich 1985 nach Eppenhain gezogen bin, gab es in Eppenhain einen Einzelhändler, drei Gaststätten, einen Arzt, eine Poststelle und ein Rathaus, in dem die Grundfunktionen der Stadtverwaltung zweimal in der Woche angeboten wurden. In Ruppertshain gab es zwei Metzgereien, zwei Bäckereien, und mehr als doppelt so viele Gastronomiebetriebe wie heute. In Eppenhain ist von dem ganzen nur ein Briefkasten übriggeblieben. Von einer funktionierenden Grundversorgung kann heute also in keinem der Bergdörfer gesprochen werden. Die Autarkieidylle, von der die bedrückten Ruppertshainer sprechen, gibt es in Ruppertshain schon lange nicht mehr. Jetzt geht es um das Überleben der Nahversorgung: der Rewe Markt als der Frequenzmagnet ,der Obst und Gemüsehandel, der Feinkostladen im Unterdorf in Fischbach, die Tankstelle sowie die Betriebe in der Langgasse: Metzgerei, Postagentur mit Lädchen, Bäckereifiliale, Schuhladen und Reparatur, Eisdiele etc.
Alle konstatieren nach über zwei Jahren Pandemie mehr oder weniger erhebliche Umsatzeinbußen. Inflation, Energiekosten, Fachkräftemangel kommen als wesentliche Faktoren aktuell noch hinzu und das in nicht gerade margenstarken Gewerbesektoren. Das alles wird verschärft durch die Straßensperrung einer Landesstrasse, weil sich dadurch die Kundenströme im wesentlichen nach Königstein oder Eppstein verlagern. Ob sich dies nach zwei Jahren geplanter Bauzeit wieder in Richtung Fischbach und Kelkheim orientiert, steht in den Sternen, zumal niemand vorhersagen kann, was an Infrastruktur bei dauerhaft sinkenden Umsätzen bis 2024 noch besteht. Das alles scheint die Kommunalpolitik in Kelkheim nur am Rande zu interessieren. Bei ähnlich gelagerten Fällen in Münster und Hornau ist dies ganz anders. Der Wegfall des TeGut Marktes in Münster hat die Kommunalpolitik in Kelkheim genauso intensiv beschäftigt wie eine Legislaturperiode zuvor der gefährdete Edeka-Markt in Hornau. Für die Bergdörfer bricht langfristig eine ganze Infrastruktur weg. Bis auf Palaver gibt es kaum Impulse aus der Kelkheimer Kommunalpolitik. Urban Gardening, antirassismuskonforme Gestaltung von Ortsschildern und der ganze Kräthenbach-Kitsch illustriert mit Buntspecht Fotos aus dem Internet: Das ist die Agenda aus den Kirchturmspitzen Kelkheims. Alles andere bleibt auf der Strecke: Regionalität der Lebensmittelversorgung, ein gut funktionierender Nahverkehr mit einer guten Schülerbeförderung, Vermeidung von überflüssigem Individualverkehr, sowie eine nachhaltige Förderung des gesamten ortsansässigen Gewerbes. (Die VKS nimmt bis heute keine Mitglieder aus den Bergdörfern und aus Fischbach auf).
Die Sanierung der Robert-Koch-Strasse in Ruppertshain ist seit 30 Jahren überfällig. Der Kairos, der richtige Zeitpunkt, ist vor allem in der Politik ein ganz wesentliches Momentum. Eine solche Baumassnahme mitten in einer zweistelligen Inflationsphase, der noch mindestens zwei Jahre andauernden Energiekrise und den Lieferengpässen mit allen negativen Folgen zu beginnen ,ist schon ein Stück aus dem Tollhaus.
Ein Moratorium nach dem ersten Bauabschnitt im März, in dem noch einmal in Kenntnis der gegenwärtigen Entwicklungen ein fundierte Folgeabschätzung vorgenommen und erforderliche Konsequenzen im Interesse einer nachhaltigen gemeinsamen Stadtentwicklung gezogen werden, ist daher das Gebot der Stunde.
Besser wäre es cum grano salis allemal, wenn woke Naturschützer und Naturschützerinnen zwischenzeitlich eine Haselmaus oder einen Gartenschläfer in der Nähe der Baustelle aufspüren könnten, wie das in Kelkheim eigentlich normal ist.
Eckart Hohmann, Kelkheim