Kelkheim (ju) – Corona scheint für Viele von uns schon wieder meilenweit entfernt. Der Alltag läuft wieder wie vor der Pandemie, keine Einschränkungen mehr, Freiheiten wie früher.
Nichts ist mehr wie vorher
Einige von uns können diese Freiheiten aber nicht mehr genießen. Sie quälen sich seit ihrer Infektion mit dem Coronavirus mit einer immer noch nicht anerkannten Erkrankung rum – Long COVID. Allein in Deutschland geht man von mindestens einer Million Betroffenen aus. Doch wann spricht die Medizin, die sich völlig neuen Herausforderungen gegenübersieht von Long COVID oder Post-COVID? Wenn drei Monate nach einer SARS-CoV-2-Infektion noch immer gesundheitliche Beschwerden bestehen, die über mindestens zwei Monate anhalten und nicht anderweitig zu erklären sind, spricht man vom Post-COVID-Syndrom (PCS). Die Symptome sind insgesamt heterogen, viele Betroffene haben Atembeschwerden, können sich schlecht konzentrieren und sind kaum belastbar. Besonders oft berichten PCS-Erkrankte von einer bleiernen Erschöpfung, die sich durch normale Erholung kaum beheben lässt: die sogenannte Fatigue. Häufig können diese Menschen den Alltag kaum noch bewältigen und leichte Anstrengung verschlechtert den Zustand, man spricht von Belastungsintoleranz. Frauen trifft es deutlich häufiger als Männer.
Selbsthilfegruppe gegründet
Eva Wege und Petra Nega-Aach sind zwei dieser Frauen, die seit ihrer Infektion mit dem Virus komplett aus der Bahn geworfen wurden. Um sich mit ebenfalls Betroffenen auszutauschen, haben die beiden vor einem Jahr eine Selbsthilfegruppe gegründet. Alle drei Wochen treffen sie sich im Gemeindehaus von St. Johann in Fischbach, um sich gegenseitig Mut zuzusprechen, um Tipps weiterzugeben oder auch einfach nur, um gesellig beieinander zu sein. Denn die Leben der beiden Frauen und der anderen 10 Mitglieder der Selbsthilfegruppe sind aus den Fugen geraten.
Petra Nega-Aach hatte sich 2021 an ihrem Arbeitsplatz infiziert – sie arbeitete als Erzieherin in einer Kindertagesstätte. Als der Test endlich wieder negativ war, wollte sie wieder loslegen. Doch es kam anders. „Ich war schon Mittags so erschöpft, dass gar nichts mehr ging“, erinnert sie sich. Eine Reha bringt gar nichts, da die Ärzte damals noch gar nicht auf Long COVID vorbereitet waren. In ihrer Leidenszeit, die bis heute anhält, mussten sich beide Sätze von Ärzten anhören, die schwer zu verdauen sind. Von „Sie wollen doch gar nicht gesund werden“ bis hin zu „Long COVID haben nur Menschen, die nicht arbeiten wollen“, war alles dabei.
„Fatique“ und „Brain Fog“
„Das macht es auch so schwer, wenn man sich nicht ernstgenommen fühlt“, weiß auch Eva Wege zu berichten. Sie kämpft bis heute mit dem Fatique Symptom und dem sogenannten „Brain Fog“. Beides beeinflusst ihr Leben maßgeblich. „Bei Fatique ist es so, dass man gar nicht mehr in der Lage ist, mehrere Dinge am Tag zu erledigen. Übernimmt man sich, braucht man wochenlang, um sich wieder zu erholen“, berichtet Wege. „Wir haben gelernt, mit unserem Akku sorgsam umzugehen, unsere Tage so zu planen, dass wir uns nicht zu viel vornehmen“, fügt Nega-Aach an. Heißt im Klartext: „Ich habe das Gefühl, dass noch jemand in meinem Körper wohnt und die Energie abzieht“, beschreibt es Nega-Aach. Eva Wege setzt zusätzlich noch der „Brain Fog“ zu. Sie beschreibt es als ein Art Tunnel, der ihre Wahrnehmung einschränkt – alles verschwindet aus dem weiteren Blickfeld, die Konzentration ist weg, nichts geht mehr. Der Gehirnnebel ist ein häufiges Symptom nach einer Coronavirus-Infektion und bleibt manchmal Tage, Monate, Jahre. Die Forschung ist dran, doch Abhilfe gibt es derzeit nicht.
Wie geht das Leben weiter?
Wie geht man damit um, wenn ein Leben, wie man es früher geführt hat, plötzlich nicht mehr möglich ist? Beide tun sich schwer. Petra Nega-Aach kann bis heute nicht arbeiten, zum Glück ist ihre Erkrankung von der Berufsgenossenschaft anerkannt, da sie sich am Arbeitsplatz angesteckt hat. „Aber all die Dinge, die ich früher so gern gemacht habe, wie zum Beispiel tanzen, gehen nicht mehr. Und das schmerzt immens.“ Rückhalt geben ihr auch die Gemeinde und ihr Glaube. „Ein Ankerpunkt in meinem Leben. Wäre da nicht der Glaube an Gott, wüsste ich nicht, ob es mir so gut gehen würde.“
Selbst Urlaube werden zur großen Herausforderung, an Fliegen ist gar nicht mehr zu denken. Eva Wege hat wieder angefangen zu arbeiten und sieht sich ganz anderen Widrigkeiten ausgesetzt. Anerkannt ist ihre Erkrankung nicht, um alles muss sie kämpfen. „Ich bin gern arbeiten gegangen, musste aber wieder komplett bei Null anfangen. Und wenn ich heute durch meine Symptome ausfalle, stößt das auf wenig Verständnis. Man sieht ja nicht krank aus“, verrät sie. Nicht selten kommt es zu Mobbing. „Man klammert sich an die Hoffnung, dass es besser wird“, verraten beide. Hilfe und seelischen Beistand gibt dabei die Selbsthilfegruppe - denn wie der Volksmund schon sagt: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Denn die Gruppe, die sich aus 30- bis 70-Jährigen zusammensetzt, ist inzwischen viel mehr als nur Austausch. Sie gibt Anregung zu einem bewussteren Tun, die Mitglieder setzen sich Themen für ihre Treffen, man spricht über Ernährung und ist Stütze bei Rückschlägen. So wie vor kurzem, als eine Teilnehmerin nach einer weiteren Coronainfektion glaubte, sie sei geheilt, weil ihre Symptome verschwunden waren. Leider kamen sie wieder. „Wir müssen unsere Leben dosieren, aber wir haben uns und unsere Männer, die eine wirklich wichtige Stütze sind“, heben beide hervor. Und dann sagen sie einen Satz, der mitten ins Herz trifft und den Schmerz ausdrückt, den wohl nicht nur sie empfinden: „Man will einfach nur mal wieder man selbst sein.“
Long COVID
Long COVID, auch bekannt als Post-akutes COVID-19-Syndrom, bezeichnet die gesundheitlichen Spät- oder Langzeitfolgen der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19). Während eine akute COVID-19-Erkrankung in der Regel bis zu vier Wochen dauert, können längerfristige Symptome über diesen Zeitraum hinaus bestehen oder zusätzlich auftreten. Dies gilt sowohl für schwere Verläufe als auch für milde Krankheitsverläufe oder unbemerkte Infektionen.
Die beobachteten Symptome von Long COVID sind vielfältig und können von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Hier sind einige der häufigsten Symptome:
Erschöpfung
Kurzatmigkeit
Konzentrationsprobleme, Vergesslichkeit oder Verwirrtheit
Gelenkschmerzen
Husten
Brustschmerzen
Probleme beim Riechen und Schmecken Kopfschmerzen
Schwindel
Muskelschmerzen
Es gibt jedoch keine eindeutige Diagnose für Long COVID, und es existiert kein einziger Test, mit dem die Erkrankung sicher festgestellt werden kann. Wenn bestimmte Beschwerden nach einer bestätigten COVID-19-Erkrankung weiterbestehen, kann jedoch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von Long COVID ausgegangen werden.
Die genaue Verbreitung von Long COVID ist noch nicht vollständig geklärt, aber Studien deuten darauf hin, dass mehr als die Hälfte der überwiegend hospitalisierten Patienten weltweit mindestens ein Long-COVID-Symptom aufweisen. Es ist wichtig, dass Betroffene ärztliche Hilfe suchen, um ihre Symptome zu bewerten und gegebenenfalls weitere Untersuchungen oder Behandlungen erhalten.
Weitere Infos
Inzwischen ist die Forschung weit vorangeschritten und es gibt viele neue Erkenntnisse.
https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/wie_sich_...
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/144277/Brain-Fog-nach-COVID-19-Gr...
https://www.nature.com/articles/s41579-022-00846-2
Die Long COVID Selbsthilfegruppe ist derzeit voll besetzt. Wer trotzdem Informationen haben möchte oder Interesse daran hat, eine weitere Gruppe ins Leben zu rufen, kann sich unter lcs2023[at]t-online[dot]de an Petra Nega-Aach wenden. Außerdem wird die Gruppe am Freitag, 7. Juni, mit einem Stand auf dem „5. Psychiatrietag des Main-Taunus-Kreises“ im Landratsamt in Hofheim vertreten sein.
Das Coronavirus hielt seit Ende 2019 Anfang 2020 die Welt in Atem. Die Infektionszahlen stiegen Tag für Tag, die Hospitalisierungsraten schossen in die Höhe. Menschen starben, Maßnahmen wie Lockdowns und Maske tragen wurden eingeführt. Das Virus mutierte im Laufe der Zeit immer wieder, die Wissenschaft entwickelte Impfstoffe. Für einige hatte die Infektion schwerwiegende Folgen – Long COVID.Foto: Collage pixabay.com/pexels.com
Petra Nega-Aach (li.) und Eva Wege hoffen auf ein Stück Normalität, möchten aber auch anderen Mut machen.Foto: J. Ulbricht