„Ob meine Eltern noch leben?“ Zeitzeugengespräch in der Eichendorffschule

Georg Felhölter erzählte den Jugendlichen von seinen Erlebnissen während des 2. Weltkrieges und was das mit ihm gemacht hat.Fotos: R. Struwe

Am Schicksalstag der Deutschen, dem 9. November, an dem 1989 die Mauer fiel und 1918 die Novemberrevolution stattfand, nahm 1938 auch die Reichspogromnacht ihren schrecklichen Lauf. Am 10. November, 83 Jahre später, erinnerte sich die Q3 der Eichendorffschule Kelkheim an diese schreckliche Nacht zurück. Denn an dem Tag wurden die Schüler von dem damals siebenjährigen Zeitzeugen Georg Felhölter besucht, der die Synagoge in seiner Heimatstadt Osnabrück brennen sah.

Georg Felhölter wurde im Juni 1931 als sechster und jüngster Sohn eines Schreiners geboren. Seine Familie lebte in „einfachen und primitiven“ Verhältnissen. Die achtköpfige Familie teilte sich eine enge Dreizimmerwohnung.

Mit 10 Jahren wurde Felhölter Teil des Jungvolks und ein begeisterter Pimpf. Viele Zeitzeugen, so auch er, berichten von dieser Erfahrung sehr positiv. Für die Kinder war die Zeit bei der Hitlerjugend außerordentlich spaßig. Die Beschäftigungen der Jugend, wie Theaterstücke, das Marschieren durch die Straßen und das gemeinsame Singen, waren „eine ganz tolle Sache“ für den Zeitzeugen und seine Kameraden. Georg Felhölter berichtete von seinem Dienst am Mittwoch und Samstag, bei dem sie auf den Straßen marschierten und „grölten“. Bei unterhaltsamen Geländespielen wurden die Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren politisch geschliffen. Der Fanatismus wurde unterbewusst indoktriniert, doch die jungen Burschen „hatten Spaß“. Er berichtet von seinem Vater und dessen Abneigung der HJ gegenüber. Seine Familie sei politisch neutral gewesen. Sein Vater versuchte stets, „den Kopf aus der Schlinge“ zu halten.

Nach Ausbruch des Krieges sind seine fünf Brüder als Soldaten einberufen worden. Er blieb aufgrund seines Alters verschont, erlebte jedoch dadurch die schlimmen Luftangriffe auf Osnabrück. Wie sehr sich diese Erfahrungen ins Gedächtnis eingebrannt haben, merkt man, wenn er von den wiederholten Bombenteppichen spricht und welche Rolle der Stand der Sonne für die angreifenden Flieger spielte. Im Winter 1944 wurde Felhölter zur Sicherheit mit der Kinderlandverschickung (KLV) ins Salzburger Land nach Abtenau im Salzbachtal gebracht.

In seiner Zeit dort erlebte der junge Georg auch, wie sehr die Begeisterung und die NS-Ideologie schon in ihm verankert waren. Seinen damaligen Fanatismus beschrieb Georg Felhölter mit einem eindrucksvollen Erlebnis. Mit 13 Jahren waren er und seine Freunde aus dem Jungvolk auf einer Alm in der Kinderlandverschickung in Salzburg. Im Jahre 1944 wurde das Salzburger Land eines Tages mit Luftangriffen der Amerikaner überrascht. Da die Flugzeuge vom Standpunkt der Alm aus gut zu sehen waren, beobachteten die Jungen diese neugierig. Eines der amerikanischen Flugzeuge war getroffen und drohte abzustürzen. Man konnte die Piloten erkennen, wie sie sich mit Fallschirmen aus dem Flugzeug her-aus abließen. Sie kamen oberhalb der Alm von Georg Felhölter hinunter. Dieser und seine Kameraden zogen ihre Fahnenmesser, die sie stets an ihrer Jungvolk-Uniform trugen. Dort standen die Jungen nun bereit, den Feind zu erdolchen. So warteten die Jungen auf die Feinde, da diese gezwungenermaßen an der Alm vorbeimussten. Zeitgleich näherten sich deutsche Soldaten, welche die Amerikaner in Gewahrsam nehmen sollten. Von den deutschen Soldaten in eine Almhütte eingeschlossen, wissen Felhölter und seine Kameraden bis heute nicht, was mit den amerikanischen Soldaten geschah, doch noch heute ist er schockiert darüber, wie sehr er vom Hass getrieben war.

Der Zeitzeuge berichtete, dass bereits im Frühjahr 1945 das Kriegsende zu spüren war. Als es dann am 8. Mai zur Kapitulation kam, blieb Abtenau unbesetzt. „Was jetzt?“, hieß es nun. Ohne Kommunikationsmöglichkeiten, um zu erfahren, wie die Heimat aussah oder ob die Eltern noch lebten, nahmen sieben Jungs ihr Schicksal selbst in die Hand und beschlossen, den Heimweg anzutreten. Sie schliefen bereits vor Kriegsende drei Nächte in ihrer Kleidung, um stets bereit für eine schnelle Flucht zu sein. Sie nähten aus ihren Kissenbezügen Rucksäcke, packten diese mit ihrem Hab und Gut und schliefen auch darauf. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai, als die Glocke 12 schlug, war es so weit. Sie stiegen aus dem Fenster und machten sich auf eine Reise ins Ungewisse. Die sieben tapferen Reisenden trennten sich nach und nach, unter anderem wegen unterschiedlicher Belastbarkeitsgrenzen. Georg Felhölter hatte auf seiner Reise einen ständigen Gefährten namens Bernd Krohs. Die Reise in die Heimat dauerte insgesamt 20 Tage. Das letzte Stück von Gießen nach Osnabrück wurden sie in einem Umzugslaster mitgenommen. Endlich angekommen, erwartete sie ein Schock. Ihre Heimatstadt war nicht wiederzuerkennen. Selbst den ihnen sehr bekannten Rosenplatz erkannten die beiden Jungen nicht. Osnabrück lag in Trümmern. Nach einem Moment der Trauer und des Schocks trennten sich ihre Wege. Der junge Georg Felhölter erinnerte sich, dass es die Zeit war, in der seine Mutter die Hühner fütterte. So schnell, wie seine Beine ihn trugen, rannte er zu ihrem Garten. In all den Trümmern sah er seine Mutter im Garten stehen. Glücklicherweise hatten seine Eltern den Krieg überlebt. Und auch alle seine fünf Brüder kamen nach und nach aus der Kriegsgefangenschaft zurück.

Heute ist Georg Felhölter ein absoluter Pazifist und lehnte in seinem Leben Uniformen stets ab. Aus all seinen Erlebnissen lernte er etwas, was für alle wichtig ist und was er der jetzigen Generation dringlichst auf den Weg mitgeben will: „Erinnerung ist wichtig. Die Zukunft baut auf die Vergangenheit auf. Die Gegenwart ist bloß ein Augenblick.“

Dieser Bericht wurde von den Schülerinnen Clara Matesiu und Thora Meyer verfasst.

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