„Siegestaumel am Kleinböhl ...und allenthalben erklangen Soldatenlieder“

Zwei Kolleginnen, deren gemeinsame Auftritte stets von besonderem Interesse sind: Simone Hesse, Leiterin der Stadtbibliothek (links), begrüßte wieder einmal Stadtarchivarin Beate Großmann-Hofmann zu einem lokalhistorischen Vortrag. Diesmal sogar an historischen Ort, denn als „Hotel Georg“ spielte das Gebäude in der Wiesbadener Straße 6 keine unbedeutende Rolle im Jahr 1914. Foto: Friedel

Königstein (hhf) – Da muss man schon aufpassen, in der letzten Woche strömten noch napoleonische Truppen in die Stadt und nun verlassen deutsche Soldaten ihre Heimat, um in den „Großen Krieg“ zu ziehen und an Weihnachten wieder zurückzukehren – die Beschäftigung mit der reichhaltigen Heimatgeschichte kann schnell verwirren. Es dürfte aber auch an den Formeln der Regenten zur Kriegsbegeisterung liegen, die unterscheiden sich über die Jahrhunderte wenig, in der Regel ist man unschuldig von bösen Mächten angegriffen worden und muss nun Freiheit und Ehre des Vaterlandes verteidigen, also eigentlich ein Grund zu Freude und Zuversicht...

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ lauteten so auch die Schlagzeilen, als im Sommer vor 100 Jahren die Mobilmachung für den Ersten Weltkrieg bekannt gemacht wurde, und Stadtarchivarin Beate Großmann-Hofmann ergänzte: „...und allenthalben erklangen Soldatenlieder.“ Damit hatte sie gleich die Überschrift für ihren Vortrag zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Königstein und Umgebung gefunden, der später mit dem berühmten Buchtitel „Im Westen nichts Neues“ eine tragische Zusammenfassung erhalten sollte.

Passend zur einschlägigen Literatur, von der gleich ein ganzer Büchertisch Zeugnis ablegte, fand der Vortrag in der Stadtbibliothek statt, wo Leiterin Simone Hesse die über 40 Zuhörer gleich zu Anfang erinnerte, dass dieses eigentlich bekannte „Schulbuchthema“ kein Happy End haben wird. Auch nicht in einer der Fortsetzungen, denn zum einen beschränkte sich die Referentin diesmal auf den Schwerpunkt Kriegsausbruch im Jahr 1914, zum anderen gilt der Erste Weltkrieg ja auch als die „Urkatastrophe“, die zu reichlich Feindseligkeiten in Europa führte und schließlich im Zweiten Weltkrieg gipfelte.

Angesichts der großen Zerstörungen dieser Ära freute sich Beate Großmann-Hofmann besonders darüber, dass ihr Aufruf, die spärlichen Bestände des Stadtarchivs durch private Materialien zu ergänzen, erfolgreich war. Ihr besonderer Dank gilt den Familien Hasselbach, Hess, Hedwig und Kehrer, dennoch hofft sie für die nächsten Jahres-Vorträge noch auf weitere Zugänge, vor allem aus den Stadtteilen. Interessant, dass schon damals die heutigen Stadtteile zumindest sporadisch von Königstein mitverwaltet wurden, zumindest, wenn es um überörtliche Belange ging.

Die Region lag im Juli 1914, ähnlich wie das „wohlbekannte gallische Dorf“ des Asterix zu Beginn eines neuen Abenteuers, in tiefem Frieden, wie eine Momentaufnahme zeigt: Die Taunuszeitung, damals noch ein Königsteiner Produkt der Druckerei Kleinböhl in der hinteren Hauptstraße, berichtet am 31. Juli vom Schülerball in Schneidhain, der Kerb in Neuenhain und etlichen Kurveranstaltungen. Karl Wirth wirbt für „Automobil-Gesellschaftsfahrten“ durch den Taunus, die Landwirte sollen Ammoniak zur Verbesserung ihrer Böden kaufen und dann macht eine Anzeige hellhörig: Die katholische Kirche sagt ihren Basar am 2. August wegen „kritischer Zeitlage“ ab. „Da schwebt etwas in der Luft“, kommt die Referentin auf ihren lokalen Bezug zu sprechen, denn die vorderen Seiten der Zeitung sind längst voll von reichsweiten Nachrichten zum bevorstehenden Krieg.

Mit ihrer Absage haben die Katholiken schließlich genau auf den Punkt getroffen, denn am 2. August trifft auch in Königstein ein Telegramm aus Berlin ein, das die Mobilmachung verfügt.

Offenbar schon vor dem offiziellen historischen Zeitpunkt vorbereitet, trifft die Nachricht um 6.20 Uhr in Königstein ein, um 6.45 Uhr zeichnet Bürgermeister Malter in Schneidhain gegen, das von Königstein aus postalisch auf dem Fußweg versorgt wird. Noch am gleichen Abend quellen die Züge vor Reservisten über, die sich zu ihren Sammelstellen nach Mainz und Biebrich begeben, wo sie freilich einige Tage warten müssen, was der eine oder andere zu einem schnellen allerletzten Besuch daheim nutzt.

Nicht nur in Königstein kehrten die Angehörigen einerseits leise und traurig von der Verabschiedung ihrer „Krieger“, wie man sie damals nannte, zurück, andererseits berichtet die Presse: „...und überall erklangen Soldatenlieder.“ Nach einem Abschiedsgottesdienst weist Pfarrer Bender darauf hin, dass die Kirche vorerst ganztägig geöffnet ist, Angehörige von Soldaten und Familien, die in Not geraten sollen sich melden. Letzteres geschah in diesen Tagen nämlich durchaus oft und plötzlich, wenn der Ernährer der Familie in den Krieg ziehen musste. Da half es auch nichts, dass Kaiserin Auguste Victoria parallel zu ihrem Ehemann Wilhelm („Mitten im Frieden überfällt uns der Feind...“) einen Appell an die Frauen richtet, denen es „nicht vergönnt ist“, zu kämpfen, nun in der Heimat die entstandenen Lücken auszufüllen. Wenn zum Beispiel bei Metzger Michael Bender der Schlachter fehlt, ist er nicht zu ersetzen und das Geschäft muss schließen, ähnlich ergeht es der Schlosserei Schwager, Bäcker Emil Hees oder Installateur Hildmann. Andere Geschäfte müssen ihre Öffnungszeiten drastisch reduzieren und schließen nun abends schon um acht Uhr (!).

Zur Unterstützung der Familien, aber auch der Männer an der Front formieren sich schnell vaterländische Hilfsvereine, sicherheitshalber unter Vorsitz eines Mannes trifft sich der Frauenverein im Hotel Prokasky. Dort und auch in anderen Hotels der Stadt werden Theater- und Musikaufführungen zur Finanzierung der Kriegsfürsorge sowie „patriotische Abende“ abgehalten, Kinder stricken Wollsocken für die Soldaten an der Front. Darunter auch die zwei jüngsten Enkelinnen von Großherzogin Adelheid Marie, die noch immer in Königstein wohnt. Luxemburg ist nicht nur von Deutschen Truppen „zum Schutz der Eisenbahnen“ besetzt, nach Kriegsende muss die dort amtierende Großherzogin Marie Adelheid auch noch wegen zu großer „Deutschfreundlichkeit“ zurücktreten – sie war 1916 zur Beerdigung ihrer Großmutter nach Weilburg gefahren.

Am 15. Oktober 1914 müssen sich Königsteiner, Falkensteiner und Schneidhainer im Hotel Georg (heute Stadtbibliothek) zur „Kriegsaushebung“ einfinden, die Mammolshainer schon fünf Tage früher in Bad Homburg. Die Stadtverwaltung schließt für jeden Kriegsteilnehmer eine Versicherung für 10 Mark ab, im Todesfall bringt sie der Familie 250 Mark –aber nur, wenn es nicht zu viele Tote gibt, das steht im Kleingedruckten. Während sich die Bevölkerung regelmäßig „am Kleinböhl“ versammelt, dem Aushang der Druckerei, wo am 4. September der vielen Siegesmeldungen wegen spontan die Nationalhymne gesungen wird (abends läuten auch die Glocken), gibt es bereits die ersten Gefallenen zu beklagen. Familien- und Vereinsanzeigen betrauern Karl Fischer (23) und Wilhelm Alter (28) aus Königstein, Karl Usinger und Jean Ochs aus Schneidhain sowie Josef Hasselbach aus Falkenstein.

Ungeachtet dessen wird die Jugend in der „Jugend-Wehr“ militärisch vorgebildet und paradiert vor Bürgermeister Anton Jacobs, dessen „Bericht über das Wirtschaftsleben im Kriege“ heute wichtige Informationen aus dieser Zeit liefert, während erst St. Josef, dann Sanatorium Kohnstamm und schließlich auch Kurhotel Taunusblick zu Vereinslazaretten umgewandelt werden. Dennoch verkaufen die Gärtnereien kaum noch Schnittblumen, denn die Kurgäste bleiben aus und sogar der Grundstücksmarkt kommt zum Jahresende zum Erliegen. Schlimmer noch: Die Frankfurter Villenbesitzer verkürzen ihre Sommeraufenthalte, so dass sie unter 90 Tagen Aufenthalt keine Zweitwohnsitz-Steuer mehr entrichten müssen, was die Stadtkasse satte 40.000 Mark kostet.

Ein besonderes Schicksal trifft schließlich die Hoffotografen Kehrer und Schilling, deren betuchtere Kundschaft ohnehin bereits verloren gegangen ist, denn nun machen ihnen wohlwollende „Amateurfotografen“ auch noch das Geschäft mit Familienbildern für die Front kaputt, Personalentlassungen bis zur Putzfrau sind die Folge.

Friedrich Kehrer fällt schließlich 1916 und sein minderjähriger Sohn Karl muss das Geschäft weiterführen. Während das „Grand Hotel“ (heute KVB-Klinik) als weithin sichtbare Kriegsfolge in „Königsteiner Hof“ umbenannt wird (und später in der Zeit der französischen Besatzung das „Grand Hotel“ wieder als Untertitel führt), legen sorgfältig aufbewahrte Feldpost-Briefe und sogar Fotografien aus dem Schützengraben private Zeugnisse aus jenen Tagen ab, in denen langsam dämmerte, dass Weihnachten doch nicht zu Hause gefeiert werden wird. Während Gustav Hedwig sich immerhin freuen kann, Anton Kroth in Frankreich wiedergetroffen zu haben, fliegen einem „Kollegen“ der Stadtverwaltung, vermutlich Polizeihauptwachtmeister Franz Göbel zum Fest französische Kugeln um die Ohren: „Die wollen es aber mit Gewalt wissen...“

Zu Hause feiern die Angehörigen natürlich auch ihr Weihnachtsfest, bedürftige Kinder unter einem Weihnachtsbaum von Adelheid Marie im Hotel Georg, wobei der Weihnachtsmann (wenigstens nicht das Christkind! Anm. d.Red.) von seinen Kriegserlebnissen berichtet. Trotz einer gewissen Zukunftshoffnung in den Neujahrsanzeigen der Königsteiner Geschäftsleute, außer Dienstmann Geiß, der „derzeit im Kriege“ grüßt, schloss Beate Großmann-Hofmann diesen Jahresbericht mit dem angekündigten Ausbleiben eines Happy End: „Viele Schreiber von Weihnachts- und Neujahrspostkarten überlebten ihre guten Wünsche nicht.“



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